Samstag, 14. Januar 2012

Nachhaltigkeit und Nationalismus - zur Konjunktur von Ideologien I


In den folgenden Beiträgen will ich die These veranschaulichen, daß Ideologien Konjunkturen unterliegen und umgedeutet werden. Eine Idee verändert ihren Charakter dann, wenn sie mächtig wird. Eine ursprünglich liberale, emanzipatorische, sprich: fortschrittliche Idee wird zum Instrument der Unterdrückung, wenn sie im politischen Diskurs nicht mehr oppositionell ist, sondern staatstragend - aus einer inklusiven Idee wird eine exklusive. Pointiert: Sobald eine Idee vom Establishment übernommen wird, brauchen wir eine neue.
Oder anders: Eine akzeptierte Ideologie ist gefährlich.



Im ersten Teil stelle ich die Konjunktur einer Ideologie dar anhand des Nationalismus:
     


Die Nation als Vehikel für Demokratisierung: Märzrevolution 1848

Weg mit dem Adel - weg mit den Kleinststaaten!



Nationalismus heißt Befreiung! Nationalismus bedeutet Emanzipation des Individuums, Demokratie und Rechtsstaat! Nur als Nation können wir es erreichen, den Menschen von seinen Fesseln zu befreien! Denn Nationalismus ist eine Freiheitsbewegung! Nationalismus ist Fortschritt!
Wenn ich das heute schreibe, klingt das - gelinde gesagt - seltsam. Hätte ich das so oder so ähnlich 1815, 1848 oder sogar noch 1866 zu Papier gebracht, wäre mir die breite Zustimmung der intellektuellen, liberalen Avantgarde sicher gewesen. 



Im frühen 19. Jahrhundert gab es weltweit und in Europa nur ganz wenige Nationalstaaten. Für Europa streng betrachtet sogar nur zwei, drei: Frankreich, Portugal und die Niederlande. Europa stellte sich auf politischen Landkarten als seltsame Ansammlung dar. 
Es gab große Blöcke: Das Habsburger Reich schloß die Regionen Österreich ein, Ungarn, Kroatien, Tschechien, die Slowakei, Süd-Polen, die West-Ukraine und andere mehr. Der Block des Ostens war das Russische Reich bestehend unter anderem aus Ost-Polen, Estland, Lettland, Finnland, Georgien und vielen anderen heutigen unabhängigen Staaten. In Südeuropa umfaßte das riesige Osmanisch Reich neben Nordafrika, Syrien und so weiter die europäischen Regionen Albanien, Nord-Griechenland, Bosnien und Teile Rumäniens. Irland gehörte zum globalen Britischen Empire und Spanien ist mit Katalonien und Teilen des Baskenlandes noch heute ein multinationaler Staat.
Große Blöcke und Zwergstaaten: Europa 1848
Auf der anderen Seite finden wir auf der politischen Landkarte Europas im frühen 19. Jahrhundert in der Mitte von Nord nach Süd eine Ansammlung kleiner und kleinster Staaten: Württemberg, Oldenburg, Sachsen-Coburg und Gotha, Schaumburg-Lippe, Schwarzburg-Rudolstadt, Sachsen-Altenburg, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Sachsen-Altenburg, Lübeck, Lippe, Modena, Parma, Toskana, Sardinien, Zwei-Sizilien, Lombardei, Preußen (mit West-Polen, Süd-Litauen) und viele viele andere mehr. 


Das politische System all dieser Staaten lässt sich sehr grob und allgemein als Monarchie beschreiben. Der Adel regierte, ohne sich für seine Finanzen, seine Rechtsordnung und so weiter vor irgendjemandem rechtfertigen zu müssen. Doch empfand sich der soziale Stand der Bürger aus ökonomischen, moralischen und ideellen Gründen immer mehr als Träger des Staates und bestand darauf, Einfluß auf die Politik zu üben. Das alles ist sehr grob zusammengefaßt. Doch der Punkt ist: Das Bedürfnis nach Mitbestimmung, Mitgestaltung, rechtlicher Gleichstellung und sozialer Emanzipation war geboren. 


Nationalismus als Emanzipation



Vehikel dieser emanzipatorischen Idee war die Nation. Die Deutschen und Italiener wollten nicht mehr unmündige Untertanen ihrer Provinzfürsten sein, sondern sie träumten von einer Nation, in der alle Deutschen beziehungsweise alle Italiener (zumindest die bürgerlichen Schichten) die Geschicke des Staates mitbestimmten und juristisch gleichberechtigt wären. In den großen Reichen begehrten die Polen nach einem eigenen Nationalstaat mit Verfassung und Staatsbürgerrechten - sie wollten sich von Rußlands Vorherrschaft befreien. Analog dazu Iren, Tschechen, Norweger, Finnen, Griechen und weitere.
Getrieben wurden diese demokratischen, rechtsstaatlichen Wünsche von der Idee der Nation. Wenn sich ein Hesse, ein Luccaner, ein Pole oder ein Ire als Nationalist bezeichnete, bekannte er sich zu Demokratisierung und Liberalismus. Gegen die Herrschaft des Adels, für Bürgerrechte und Mitbestimmung. Nationalismus war im frühen 19. Jahrhundert eine - auch aus heutiger Sicht - emanzipatorische Idee, eine moderne Ideologie. Nationalisten waren die Avantgarde. Nation war Fortschritt.


Warum ist das heute nicht mehr so? Warum hat Nationalismus den Ruch des Reaktionären, des Rückständigen, des Ewiggestrigen, ja - des Gefährlichen? 
Weil sich der Nationalismus wandelte. Vor allem in den neugegründeten Staaten des Deutschen Kaiserreichs, Italiens und anderen, späteren Unabhängigkeitsbewegungen wurde aus der emanzipatorischen Idee einer politisch unterdrückten Avantgarde, eine leitende Staatsideologie. Im frühen 19. Jahrhundert war der Nationalismus eine oppositionelle Idee - gerichtet gegen die herrschende Klasse, gegen den Adel. Im späten 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert machten sich die staatstragenden Eliten (bemerkenswerterweise sogar der Adel selbst) die Idee der Nation zueigen. Nationalismus war Staatsprogramm. 


Ideologie als Legitimation des Staates



Das war der Knackpunkt. Aus einer Ideensammlung, die gegen die Staatseliten gerichtet war, wurde ein Staatsprogramm, eine Ideologie der herrschenden Klasse, wenn man so will.


Sonderbriefmarke der Deutschen Post, 2007
Deutsche und polnische Flagge auf dem Hambacher Fest 1832
Das hatte Folgen. Neben der vielleicht überraschenden Erkenntnis, daß die Nation und der Nationalismus eine vergleichsweise junge Idee ist - nicht älter als 200 Jahre - steht die schwerwiegende Feststellung, daß sie ihren Charakter verändert hat. Das Leitmotiv hier ist Inklusion versus Exklusion. 
Aus heutiger Sicht mag es verwunderlich sein, daß der Nationalismus ursprünglich eine internationale, inklusive, also allgemein gedachte Ideologie war. Der Nationalismus gestand nämlich prinzipiell jeder Nation das Recht auf Demokratisierung und Selbstbestimmung zu, nicht nur der eigenen.
Als Beispiel von vielen mag hier die sprichwörtliche "Polen-Begeisterung" in den deutschen Ländern, in den Niederlanden und Frankreich gelten. Deutsche, Franzosen und Niederländer (und andere) identifizierten sich mit dem verzweifelten Kampf der Polen um einen eigenen Staat. Die nationale Idee der Polen richtete sich nämlich gegen die drei Großmächte Preußen, Rußland und Habsburg und war daher in Europa der aussichtsloseste und damit heldenhafteste Kampf für die Idee der Nation. Die heutige Nationalhymne Polens "Noch ist Polen nicht verloren" 
("Jeszcze Polska nie zginęła") erklang in deutschen, französischen und überhaupt europäischen Bierkellern und Salons, die von liberalen Demokraten besucht wurden. Anhand des besonders heroischen Beispiels der polnischen National-Bewegung vergewisserte man sich der eigenen fortschrittlichen demokratischen Ideen. Die Deutschen sangen begeistert von Polen und meinten Deutschland. Ähnliches gilt für die Unabhängigkeitsbewegung der Griechen, die gegen das Osmanische Reich gerichtet war.


Von der Emanzipation zur Repression



Insgesamt kann man jedoch feststellen, daß der Nationalismus in allen Staaten Europas im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine exklusive Ideologie wurde. Nationalismus war keine internationalistische Bewegung mehr, sondern Herrschaftsideologie der Staatseliten. Damit wurde er zu einer Ideologie der Konkurrenz; welcher Staat, welches Volk ist besser!? Man redete einen vulgär-darwinistischen Kampf der Nationen um Vorherrschaft und Überleben herbei.
Das Deutsche Kaiserreich schloß Nicht-Deutsche innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs (Polen, Dänen, Franzosen) bewußt aus. Katastrophal wurde die Staatsideologie des Nationalismus aber vor allem in der Außenpolitik: Nationalstaaten empfanden andere Staaten als Konkurrenz und Gefahr. Pointiert kann man sagen: Der Erste Weltkrieg geht auf diese nationalistische Konkurrenz zurück (für die Kriegsteilnehmer Rußland und Österreich-Ungarn gilt dies jedoch nur bedingt).

Unterdrückung der Sozialisten im Deutschen Kaiserreich:
Reichsgesetzblatt von 1878
Der Punkt ist: Nationalismus war nicht mehr inklusiv-emanzipatorisch, sondern exklusiv-aggressiv. Exklusiv heißt: Nicht mehr allen (zum Beispiel allen Deutschen) werden die gleichen Rechte und Möglichkeiten eingeräumt, sondern anderen (zum Beispiel Nicht-Deutschen) werden gleiche Rechte und Möglichkeiten verwehrt - auf Grund derselben Ausgangsideologie. Die Nation wurde geheiligt und stand nun über der eigentlichen Ursprungsidee der Gleichberechtigung, des Ausgleichs und der Mitsprache. Sobald die Idee des Nationalismus dem Staat als Legitimationsressource diente, war sie kastriert - ein Schatten ihrer selbst. War die Nation eigentlich ein Mittel, um Rechtsstaat und Demokratie zu erreichen, verkam sie zum Ziel ihrerselbst. Mehr noch: Zum Wohle der Nation beschnitt das Deutsche Reich die Rechte von Sozialdemokraten (Sozialistengesetze) und Katholiken (Kulturkampf). Der Nationalismus hatte als emanzipatorische Idee ausgedient und pervertierte zum Instrument der Repression und Unterdrückung.   

Allgemeiner Befund



Hier kommen wir zu dem allgemeinen Befund, den ich am Beispiel des Nationalismus exemplarisch durchgespielt habe. Meine These ist: Ideologien unterliegen Konjunkturen. Und: Ideologien werden in dem Maße gefährlich, je mehr sie zu Ideologien der herrschenden Klasse, des Staates werden. Das heißt: Je mächtiger eine Ideologie wird, desto mehr verliert sie ihren inklusiven Charakter. Oder einfach gesprochen: Je akzeptierter eine Ideologie ist, desto weniger befreit sie die Menschen, desto mehr unterdrückt sie die Menschen.

Im nächsten Post will ich diese These an der heute als fortschrittlich geltenden Idee der Nachhaltigkeit anwenden. 

5 Kommentare:

  1. Wenn man aber jede Ideologie nicht weiter verfolgen dürfte, würde es dann nicht bedeuten, dass wir uns nicht weiterentwickeln? Strebt man nicht immer nach Veränderung? Ausgehend von deiner Argumention, ist der Status quo, also der Status mit dem sich gerade jeder schön arrangiert hat, damit nicht automatisch der Beste? Fortschritt bedeutet immer Veränderung und Umbruch. Problematisch ist nicht die Idee, sondern die Personen, die versuchen für sich Kapital daraus zu schlagen. Müsste man dann nicht viel mehr das "Volk" verurteilen dafür, dass es nicht aufgeklärt genug ist? Oder den "Staat", der nicht auf die Gefahren hinweist? Oder muss man es einfach akzeptieren, dass jede neue Idee auch Gefahren bergen kann, die erst im Laufe der Zeit/Geschichte als solche erkannt werden?

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  2. Ich schreibe gar nicht für den Status quo - das genaue Gegenteil! Ich zitiere mich selbst: "Sobald eine Idee vom Establishment übernommen wird, brauchen wir eine neue."

    Dein letzter Satz paßt sehr gut zu meiner Kernaussage: Jede neue Ideologie birgt Gefahr, die man im Nachhinein erkennen kann. Ich hoffe, daß man mit dieser Kenntnis vielleicht auch schon einen Ticken früher die Gefahren sieht.

    Deine Bemerkungen, ob man nicht das Volk oder den Staat verurteilen sollte, verstehe ich nicht.

    Und ja, es ist freilich so, wie du sagst: "Fortschritt bedeutet immer Veränderung und Umbruch."

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  3. Schöne Seite! Hat mich gefreut. Ein Korrekturvorschlag für die Bildunterschrift EUROPA1848: Statt "Große Blöcke und Zwergstaaten: Europa 1948" 1948? Danke! LG

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    1. gleiches für die Märzrevolution. Sorry! ;-)

      LG

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    2. Danke für das Lob! Freut mich, daß es dir gefällt!

      Danke auch für die Korrekturen - die sind immer willkommen.

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