Freitag, 11. Mai 2012

Kannibalismus - gab es das?



Menschenfresser, Kannibalen - Überlieferung und Literatur sind voll davon. Doch gab und gibt es das wirklich? Nein: alles Mythos, meine ich.



Die Welt kennt den Menschenfresser. Der europäische Mensch des Mittelalters und der frühen Neuzeit sah sich von Kannibalen in allen Himmelsrichtungen umzingelt, jedoch fernab der europäischen Zivilisation, ja er/sie vermutete sie gar mitten unter seinesgleichen: Juden, Hexen und Ketzer. Heute sucht man den Kannibalen / die Kannibalin nur noch in den tiefsten Urwäldern Brasiliens und Neuguineas, wiederum fernab der Zivilisation. Überhaupt ist der Kannibalismus immer der Gegenbegriff von Zivilisation und er befindet sich gleichsam auf dem Rückzugsgefecht überall dort, wo die (westliche) zivilisationsbringende Fackel in die dunklen Räume Afrikas und Südamerikas leuchtet. Heute also – wir sagten es – fast überall.   


Die Antithese „Kannibalismus – Zivilisation“ finden wir auch am Werke, wo der Kannibalismus innerhalb der zivilisierten Gesellschaft auftritt. Wie zum Beispiel beim Fall des zum Schlagwort erstarrten „Kannibalen von Rotenburg“ Armin Meiwes, der 2006 vom Landgericht Frankfurt am Main wegen Mordes und Störung der Totenruhe zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Meiwes hatte über diverse Internetforen jemanden gesucht, den er schlachten und verspeisen könne. Und wurde fündig. Die Medien stürzten sich sensations-gierig auf das ihnen dargereichte Fressen und selbst Blätter wie der Spiegel und die Zeit, die den Selbstanspruch ausgewogener und relevanter Berichterstattung in ihren Wappen tragen, konnten der Versuchung nicht widerstehen, den „Fall“ immer wieder düster bebildert in allen grausigen Details dem Leser auf dem Tablett zu servieren. Tenor: „Wie konnte diese Ungeheuerlichkeit mitten in unserer zivilisierten Gesellschaft stattfinden? Die Barbarei bedient sich gar der zivilisatorischen Errungenschaften, wie des Internets, um ihre grausamen Feste zu feiern!“ Der subversive Kannibale als Bedrohung für die Zivilisation.
            
Die öffentliche Darstellung des „Kannibalen von Rotenburg“ erreicht ihren zweifelhaften Höhepunkt mit der Verfilmung Rohtenburg (2006) durch Martin Weisz. Dort wird der Kannibalismus ins legendenhaft-verkitschte Tragische befördert. Die technologische und ökonomische Kälte der Moderne gebärt die Vereinsamung des Individuums, die von zwei Menschen nur im extremen Akt der leiblichen Hingabe einerseits und der gütigen Inkorporation andererseits überwunden wird. Kannibalismus als Zivilisationskritik.
            
Die Welt kennt den Menschenfresser. Er begegnet dem Kinde bereits in den Märchen. In Hänsel und Gretel möchte die soziale Außenseiterin, die Hexe, den Knaben verspeisen. Im Mythos verspeist der Titanenführer Kronos seine Kinder. Und auch in Filmen wie The Silence of the Lambs untergräbt der Kannibale den Konsens, daß der Mensch kein Menschenfleisch esse.
            
Woher diese Faszination? Warum begegnet uns die Anthropophagie in Kunst und Mythos so zahlreich? Warum mußten und müssen sich die Ureinwohner Amerikas, Afrikas und Ozeaniens die Unterstellung von westlicher Seite gefallen lassen, sie seien Kannibalen oder es zumindest gewesen? Warum wird / wurde die Überzeugung, es habe kulturell sanktionierten Kannibalismus gegeben, mit einer solchen Vehemenz aufrechterhalten, die durch die Lage der Dokumentation überhaupt nicht nahelegt wird?
            
Die Welt kennt den Menschenfresser. In dieser Arbeit möchte ich dem Mythos der Antropophagie nachgehen. Zunächst widmen wir uns der Dokumente, die die reale Existenz der Anthropophagie behaupten. Dann fragen wir nach der Menschenfresserei in der Literatur, um im letzten Teil eine Konklusion zu veruchen und zu erklären, woher der Kannibalenmythos rührt.      

Realität und Mythos

1. Definition

Es gibt verschiedene Formen der Vorstellung von Anthropophagie. Die wohl gängigste und grundsätzliche Unterscheidung trifft man mit der Einführung der Begriffe Endokannibalismus und Exokannibalismus. Mit Endokannibalismus meint man, den Verzehr von Menschenfleisch von Mitgliedern der als „eigen“ empfundenen Gruppe, also einfach gesagt, das Essen von Stammes- und Familienangehörigen. Wichtig für den Endokannibalismus festzuhalten ist, daß die verspeisten Personen nicht getötet werden, um als Nahrung zu dienen. Vielmehr dient der Kannibalismus hierbei als Trauerritual.
            
Der Exokannibalismus hat fremde Personen zum Opfer. Und hierbei kann man in der Tat von „Opfer“ sprechen, da diese zum Zwecke der Verspeisung umgebracht werden. Selbstverständlich ist die Vorstellung über Exokannibalismus sehr viel wirkmächtiger, da von ihr eine direkte Bedrohung ausgeht und sie somit sehr viel eher zur Sensation taugt als Formen der Trauerarbeit. Das potentielle Opfer von Exokannibalismus ist nämlich der zivilisierte Mensch, der in die Fänge von Barbaren gerät.
            
Nachdem wir diese Unterscheidung getroffen haben, können wir auch noch mit Unterkategorien arbeiten: Da gibt es zum einen den gastronomischen Kannibalismus und zum anderen den rituellen Kannibalismus.
            
Die Begrifflichkeit des gastronomischen Kannibalismus' unterstellt, daß Personen in der Tat nur um ihres Nährwertes willen verspeist werden und / oder, weil Menschenfleisch als besondere Delikatesse empfunden wird. Einen gastronomischen Exokannibalismus kann man sich also so vorstellen, daß z. B. Kriegsgefangene wie Nutzvieh gehalten und auch gemästet werden, um sie dann bei Gelegenheit – vielleicht im Rahmen eines Festes, vielleicht auch nur ganz unspektakulär – zu schlachten und zu essen. Ein gastronomischer Endokannibalismus hingegen wäre es, wenn Verstorbene eines Stammes oder einer aus einer irgend anders gearteten, als eigen empfundenen Gruppe verspeist anstatt bestattet zu werden aus der quasi praktischen Überlegung heraus: Wenn er / sie schon mal tot ist, kann er / sie auch gleich als Nahrung für die Lebenden dienen.
            
Ritueller Kannibalismus verläßt den Bereich des Genusses und der Aufnahme von Proteinen etc. und verleiht der Handlung eine stellvertretende Bedeutung, die ich als magisch bezeichnen möchte. Das Mahl soll eine Funktion haben und – auf der analytischen Ebene – komplexe lebensweltliche Erfahrungen vereinfachen und verarbeiten helfen. Bei rituellem Endokannibalismus wird der / die Verstorbene von seinen / ihren Angehörigen verspeist, z. B. um den Verlust des geliebten Verwandten zu kompensieren; Der / die Verstorbene bleibt also symbolisch Teil der Gruppe, bleibt symbolisch gegenwärtig, indem er / sie von den Weiterlebenden körperlich konsumiert, also inkorporiert wird. Oder aber der / die Hinterbliebene erwartet sich von der Inkorporation des / der Verstorbenen, daß dessen / deren Eigenschaften, wie Weisheit oder Geschicklichkeit, oder dessen / deren Autorität auf ihn / sie übergehen. Dies kann bei aristokratischen Verstorbenen wichtig sein, um den Nachfolger zu legitimieren, Dynastien zu konstruieren und Herrschaftsmacht zu übertragen. 


Beim rituellen Exokannbalismus ist das Opfer ein Feind der anthropophagen Gruppe. Auch hieran können sich die magischen Erwartungen knüpfen, durch den Verzehr die Eigenschaften des Feindes auf sich selbst zu übertragen, wie z. B. Kampfesmut, Körperkraft etc. Oder aber die Inkorporation geschieht aus Rache und Aggressivität: Der Feind soll vollständig vernichtet werden. Hierbei folgt dem Sieg über den Lebenden noch der Sieg über dessen Leichnam. Dem rituellen Exokannibalismus geht oft auch der Ritualmord voraus.
            
Dies sind die vier Formen des Kannibalismus, mit denen wir uns im folgenden beschäftigen wollen. Um der Komplexität des Themas Rechnung zu tragen, soll hier noch kurz erwähnt werden, daß man unter Kannibalismus auch nur die Inkorporation von Körpersäften verstehen kann, wie z. B. Blut (Vampirismus). Ebenso kann unterschieden werden, ob ein anderer oder der Esser selbst das Objekt ist (Kannibalismus – Autokannibalismus; analog: Vampirismus – Autovampirismus). Außerdem gilt zu beachten, ob das Objekt zum Zeitpunkt des Verzehrs lebendig ist oder nicht (Lebendkannibalismus, Lebendvampirismus; Autokannibalismus und Autovampirismus kann ohnehin nur so gedacht werden).
            
Schließlich – und das ist sehr wichtig – muß noch dahingehend unterschieden werden, ob es sich bei Kannibalismus um ein kulturell bedingtes, krankhaftes oder aufgenötigtes Verhalten handelt. Die obig beschriebenen Spielarten des Endo- und Exokannibalismus sind Beispiele eines kulturell bedingten Kannibalismus'. Anthropophagie kann jedoch auch von psychiatrischen Erkrankungen, wie z. B. Schizophrenie, hirnorganischen Schäden und sexueller Perversion rühren. Da diese Fälle pathologisiert sind, sind sie gesellschaftlich und kulturell inakzeptabel und fallen somit in toto aus dem Muster der kulturellen Anthropophagie.
            
Unter Not- oder Hungerkannibalismus versteht man den Verzehr von Menschenfleisch unter extremen Bedingungen und in Ermangelung alternativer Nahrung. Bewiesen und dokumentiert sind Fälle von Notkannibalismus etwa während der Belagerung und Blockade Leningrads 1941-44 und nach einem Flugzeugabsturz in den chilenischen Anden 1972. Für alle erwiesenen Fälle von Notkannibalismus gilt, daß nur Leichen bereits Verstorbener gegessen wurden und niemand getötet wurde, um als Nahrung zu dienen.
           
Für unser Thema interessiert uns nur Kannibalismus
  • der an anderen verübt wird
  • bei dem Menschenfleisch gegessen wird
  • der kulturell gebilligt und bedingt ist. 
Wenn im folgenden Text von Kannibalismus die Rede sein wird, so beziehe ich mich auf Kannibalismus in der obig definierten Form. Doch gab es diese Form des Kannibalismus' denn je?

2. Anthropophagie und Anthropologie
   
Nachdem wir mit all den gelehrten, griechisch-lateinischen Definitionen (ritueller / gastronomischer Endo- / Exokannibalismus) konfrontiert worden sind, mag die Frage etwas merkwürdig klingen: Gibt oder gab es das, was hier definiert wird, überhaupt?
            
Psychisch-krankhaften Kannibalismus und Hungerkannibalismus gab es in der Tat. Dies ist umfassend und stichhaltig dokumentiert. Doch gilt das auch für kulturellen Kannibalismus? Sind uns nicht allen jene Berichte bekannt, in denen primitive Ureinwohnergesellschaften Südamerikas, Afrikas und Neu-Guineas als kannibalisch beschrieben werden – und zwar von Entdeckern, Reisenden und Ethnologen gleichermaßen?
            
Diese Berichte gibt es zweifellos. Im folgenden werden wir sehen, daß deren Glaubwürdigkeit und Beweiskraft jedoch sehr gering sind.
            
Zunächst ist festzustellen, daß der Kannibalismus stets ein Jenseits-der-Grenzen-Phänomen ist. Es gibt nicht eine Gruppe, die sich selbst und gegenwärtig als kannibalisch beschreibt. Kannibalismus findet also immer nur außerhalb der eigenen Gruppen-Grenzen oder  in der (mythischen) Vergangenheit statt. Oder aber er „betrifft“ Gruppen, die als nicht dazugehörig und subversiv empfunden werden, also soziale Außenseiter, in der Antike etwa Christen, im christlichen Europa etwa Juden, Hexen und Ketzer. Die eigene Gruppe ist stets vom Kannibalismusvorwurf ausgenommen. Kannibalismus ist also ein Phänomen, das nur in großer räumlicher, sozialer oder zeitlicher Distanz festgestellt wird.
            
Für die europäische Kultur wird diese Art der Fremdcharakterisierung zum ersten Male bei Herodot faßbar. In seinen Historien unterstellt er den Massageten in Zentralasien, den Androphagen im europäischen Norden, den Issedonen im heutigen Sibirien, den Skythen im Gebiet der heutigen Ukraine und den indischen Padaiern anthropophage Sitten. Die fremden, weit entfernten Völker bekommen manchmal gar noch monströsere Attribute verpaßt. So wird bei Herodot und 400 Jahre später bei Strabo allen Ernstes behauptet am „Rande der Welt“ lebten nicht nur die Menschenfresser, sonder auch einbeinige Menschen (die ihren übergroßen Fuß übrigens als Sonnenschirm benutzen können), Menschen mit Hundeköpfen, Menschen ohne Köpfe (deren Gesicht sich auf der Brust befinde), Einäugige und dergleichen mehr. In diese Kategorien fällt auch der Menschenfresser. In der gesamten Antike wurde diese Vorstellung als geographisches Wissen angesehen. 


Das europäische Mittelalter übernahm diese Vorstellungen der monströsen Randvölker und so finden wir etwa in der Hamburgischen Kirchengeschichte des Adam von Bremen (ca. 1070), die Annahme oder die Behauptung, daß am nördlichen Rand Europas monströse Völker siedelten; und die Nordmänner des heutigen Skandinaviens natürlich Menschenfresser seien. Das heißt: Nur solange man nicht mit ihnen Kontakt hatte. Im Zuge der christlichen Mission Dänemarks und Schwedens wurde die dortige Bevölkerung nicht mehr als Menschenfresser angesehen. Dafür aber die noch nördlicheren Lappen. Auch Marco Polo, der Ostasien bereiste, berichtet von Menschenfressern. Allerdings sind dies dann nicht die Inder oder Chinesen, also die Menschen und Gruppen, mit denen er es tatsächlich zu tun hat, sondern Bewohner vorgelagerter Inseln, die er nie betreten habe, von denen er aber wisse, weil man es so sage, daß Menschenfresser sie bewohnten. Dieser Bericht wurde sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein als (Mit-)Beweis gewertet, daß es im ozeanischen Raum Kannibalen gebe. Was jedoch im 20. Jahrhundert nicht so ernst genommen wurde, war der Umstand, daß Marco Polo auch noch berichtet, diese Menschenfresser hätten Hundeköpfe.
            
Man sieht hieran bestätigt, daß der Kannibalismus ein Randphänomen, ein Jenseits-der-Grenzen-Phänomen ist. Die menschenfressenden Barbaren schieben sich immer an den Rand der bekannten Welt. Nie erreicht man sie so ganz, denn der Rand wächst mit dem Horizont. Bis zu Kolumbus. Oder?
            
Als Christoph Kolumbus auf den karibischen Inseln landet und auf Ureinwohner trifft, wähnt er sich ja bekanntermaßen an der Peripherie Ostasiens, am Rande des Reiches des Großen Khan. Auch hatte er bei der Planung der Entdeckung einer direkten Seeroute nach Indien u. a. Marco Polo als Reisevorbereitung studiert. Ebenso war er davon überzeugt, daß jene antiken und mittelalterlichen Weltbeschreibungen zutrafen. Kolumbus erwartete also auf Kannibalen zu treffen.
            
Wen er traf, waren Ureinwohner. Kolumbus versucht sich mit diesen Ureinwohnern zu unterhalten. Unnötig zu erwähnen, daß diese keine gemeinsame Sprache fanden (Kolumbus hatte auf seiner Reise einen Dolmetscher für arabisch dabei, der mit der Situation jedoch selbstverständlich überfordert war). Also kamen zur Verständigung nur Gebärden in Frage, was natürlich die Gefahr von fehlerhafter Kommunikation und Mißverständnissen erhöht. Auch „fragte“ Kolumbus gezielt, ob es hier denn Menschenfresser und Hundsköpfige et cetera gebe – und siehe da: Es wurde bejaht. Die Ureinwohner „berichteten“, sie seien stets von einem fremden Stamm bedroht, der mittels Booten auf ihrer Insel landete und sich ihnen gegenüber aggressiv verhielte. Und ja, die seien Menschenfresser.
            
An dieser Stelle muß gesagt werden, daß es sich bei der Charakterisierung fremder und / oder feindlicher Völker als Menschenfresser nicht um ein europäisches Spezifikum handelt. Ja, es hat gar den Anschein als sei es ein üblicher Topos die anderen als Menschenfresser zu bezeichnen. So hielten und halten sogar teilweise bis heute manche afrikanische Stämme die europäischen Kolonialisten für Bluttrinker und Menschenfresser. Ebenso ist diese Zuschreibung an Europäer und verfeindete Gruppen unter den Gesellschaften Neuguineas und der Karibik feststellbar. Chinesen wissen aus mythischer Zeit zu berichten, daß ihre Ahnen selbst in dunkler Vorzeit Menschenfresser gewesen seien, diese ungeheuerliche Sitte jedoch aufgaben, nachdem sie dazu übergegangen waren, ein Reich zu bilden (und Landwirtschaft zu betreiben). 

(Die Chinesen sind darum auch das einzige mir bekannte Volk, das die Anthropophagie für ihre eigene Kultur zu behaupten pflegte – jedoch nur für die ferne Vergangenheit, bevor es das Reich gab. Man wird wohl nicht fehlgehen, zu vermuten, daß die Behauptung, es habe früher die als barbarisch empfundene Sitte der Menschenfresserei gegeben, eine Funktion hat – nämlich das Reich und die Herrschaftsgewalt zu legitimieren und zur staatlichen Einheit zu mahnen. Nach dem Motto: Seht her, wenn es den Herrscher nicht gäbe, fielen wir wieder alle in die Barbarei zurück und würden wie früher Menschenfleisch essen!) 

Hier sehen wir schon, was die Behauptung, bestimmte Gruppen praktizierten den Kannibalismus eigentlich für einen Hintergrund hat: Diffamierung und Abgrenzung. Doch dazu später mehr.
            
Wie es also dazu kam, daß Kolumbus zunächst verhalten, nach seiner zweiten Reise in die Karibik aber mit Bestimmtheit, die Meinung vertrat, dort gebe es Kannibalen, ist im einzelnen nicht festzustellen. War es ein schlichtes Mißverständnis, hervorgerufen durch die schwierige Kommunikation mit den Ureinwohnern? Kolumbus' suggestive Fragen nach Kannibalen und Hundsköpfigen gepaart mit seiner Erwartung, dies bestätigt zu bekommen (schließlich „bestätigten“ diese ja auch die Nachbarschaft zum sagenhaften Volk der Amazonen, zu Hundemenschen und Einäugigen)? Oder hatten die Ureinwohner ihre ihnen feindlich gesinnten Nachbarn als Kannibalen diffamiert? Gleich. Wichtig bleibt festzuhalten, daß Kolumbus selbst nie für sich in Anspruch nahm, Kannibalismus je beobachtet zu haben, was ihn nicht davon abhielt sich für dessen Existenz zu verbürgen. Wir haben es hier also nur mit Hören-Sagen zu tun. Und zugleich wurde das antiken Randvölkerkonzepts auf die (für die Europäer) Neue Welt übertragen. 
            
Diese Übertragung war so erfolgreich, daß von nun an das Wort Kannibale geboren war. Es leitet sich von der Eigenbezeichnung Caribe des Stammes ab, den Kolumbus als erstes antraf (ironischerweise war dies eben jener Stamm, der verneinte, Kannibalismus zu praktizieren, dies jedoch von seinen Nachbarn behauptet haben soll). Mit Feld- und Wiesenetymologie kann man darin sogar das lateinische Wort für Fleisch (caro) erkennen. Spanisch-portugiesisch zu Caniba verballhornt wurde der Kannibale nicht nur zum neuen Begriff für Anthropophagie, sondern zum Symbol Amerikas schlechthin. So wurde die in Europa beliebte Erdteilallegorie, in der jeweils eine oder mehrere Figuren mit markant-reduzierten Eigenschaften einen Erdteil personifizieren, um die America erweitert. Zur märchenhaft-luxuriös gekleideten Asia, zur nackten Africa und zur selbstverständlich bekleidet kutschefahrenden, szepter- und kronegeschmückten Europa gesellt sich nun eine ebenfalls nackte Kannibalin, die Leichenteile röstet. Amerika – das Land der Menschenfresser.         
            
Die Übertragung der Vorstellung von Anthropophagie auf die Neue Welt bewirkte, daß Amerikareisenden der frühen Neuzeit mit der festen Erwartung lossegelten, an ihrem Ziel auf Kannibalen zu treffen. Der Geschichtsschreiber Petrus Martyr von Anghiera tat sein übriges dazu und peppte die Berichte aus der Neuen Welt in seinen höchstpopulären Werken auf. Obwohl nie in Amerika gewesen, wertete er die Berichte Reisender aus und fügte den auf Hören-Sagen fußenden „Beweisen“ für Kannibalismus sensationslüstern schaurige Details hinzu: So halten sich karibische Stämme Kriegsgefangene in Käfigen, kastrieren und mästen sie (analog zur europäischen Viehwirtschaft), um sie dann zu schlachten und bei orgiastisch und sexuell ausschweifenden Festen zu verspeisen.
            
Im folgenden entwickelt sich ein regelrechtes Genre der Reiseberichte aus der Neuen Welt, auch von Europäern, die dann behaupten unter Kannibalen gelebt zu haben und kannibalische Riten tatsächlich beobachtet zu haben. Problematisch an diesen Berichten ist zum einen, daß sie oft aufeinander rekurrieren. So ist vieles bis ins Detail identisch, zum Teil sogar Wort für Wort von den (erfundenen) Schilderungen des Petrus Martyr von Aghiera oder von anderen abgeschrieben – auch so erklärt sich, daß sich die Reiseberichte scheinbar bestätigen. Zum anderen werden Kulturen unterschiedlichster Regionen wie z. B. der Karibik oder Brasiliens als einheitlicher Kulturtyp beschrieben. Die stereotypen Topoi des edlen, unschuldigen Wilden und des barbarischen, grausamen Wilden werden weiterhin kolportiert, beginnen aber ineinander zu verschmelzen – immer jedoch sind die Wilden nackt und schön. Mit demselben Authentizitätsanspruch („Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“), mit dem von den Kannibalen berichtet wird, erfahren die Leser auch vom Volke der Amazonen, von Jungbrunnen und von Monstern. Dies schränkt gewissermaßen die Glaubwürdigkeit der Reiseberichte insgesamt ein.
            
Warum aber findet sich die Behauptung von beobachtetem Kannibalismus in Amerika so zahlreich in Berichten aus der Neuen Welt? Ganz klar spielten die oben erwähnten Erwartungen eine große Rolle – wer nach Amerika reiste, rechnete damit, auf Kannibalen zu treffen. Dies führte auch dazu, daß einiges mißinterpretiert wurde. So ist schon von Kolumbus beschrieben worden, daß in einem von Ureinwohnern wohl aus Angst vor den fremden Neuankömmlingen hastig verlassenen Dorf Menschenschädel gefunden worden waren. Interpretiert Kolumbus diese zunächst selbst als Bestandteile eines Ahnenkultes, stellen sie für ihn später „Beweise“ für kannibalische Riten dar. 


Wenn Europäer tatsächlich in Gefangenschaft der Ureinwohner gerieten, wurden sie oft gut behandelt, bekamen reichlich zu essen und in manchen Fällen gar Frauen an ihre Seite. Anstatt dies jedoch als zivilisierte Art, mit Gefangenen umzugehen, zu interpretieren, schlossen die Reisenden daraus, daß sie für ein kannibalisches Fest gemästet würden und die Frauen nur „gestellt“ bekamen, um mit ihnen Nachwuchs zu zeugen, der dann wieder in den Kochtöpfen landen sollte! Zu diesen kannibalischen Festen kam es natürlich nie. Ebenso konnten sich die Europäer die weitestgehend fleischlose Ernährung der Azteken nicht erklären. Da man keine Viehherden oder dergleichen fand, schloß man daraus, daß die Azteken dann wohl Menschenfleisch verspeisen müßten. Auch wurde die in manchen Gegenden der Karibik damals übliche – und in der Tat leicht mißverständliche – Form der Totenbestattung, nämlich die Mumifizierung über Feuer, als Rösten interpretiert.
            
Dann darf man noch annehmen, daß die Reisenden schlicht damit überfordert waren, die indigenen Kuluren zu begreifen. Dies ist wohl ein weiterer Grund, warum sie auf etablierte Erklärungsmuster à la Martyr von Aghiera zurückgreifen mußten. Weiter ist natürlich das Fehlen einer gemeinsamen Sprache eine stete Gefahr für Mißverständnisse. Die Sprachlosigkeit bietet auch großen Raum, dem Ureinwohner bestimmte Dinge in den Mund zu legen oder – um es klar zu sagen – Dialoge einfach zu erfinden. So berichtet etwa der deutsche Landsknecht in portugiesischen Diensten Hans Staden in seiner Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen (1557) von den (in der Folge als das Menschenfresservolk schlechthin bekannten) Tupinambá in Brasilien. Diese hielten ihn in monatelanger Gefangenschaft. Staden unterrichtet seine Leser nun also von einem Dialog zwischen zwei Ureinwohnern untereinander (sic!), in dem diese sich en détail und freimütig darüber austauschen, wie sie ihr Menschenfresserfest abzuhalten gedenken. Obwohl Staden selbst in seinem Bericht nicht müde wird zu betonen, daß die Kommunikation mit den Ureinwohnern so unendlich mühevoll gewesen sei, versichert er uns gleichzeitig Dialoge der Ureinwohner wortgetreu wiedergeben zu können.  
            
Daß man diese Beschreibungen nun als pure Erfindungen, Ausschmückungen oder bestenfalls Mißverständnisse ansehen kann, scheint klar. Cui bono? Was könnten die Motive hierfür gewesen sein?
            
Für die Berichte von Privatleuten wie Hans Staden kommen natürlich Publikations-strategien in Frage. Erstens findet die Aufzeichnung seiner Erinnerungen Jahre nach den Ereignissen statt und zweitens benötigt er für deren Verschriftlichung und literarische Komposition einen Ghostwriter. Dies war in der frühen Neuzeit usus und findet seinen Grund auch darin, daß der gemeine Europäer (also z. B. ein Landsknecht) im Lesen und Schreiben gewöhnlich nicht zu Hause waren. Dazu kommt noch, daß sich Berichte mit grausigen und scheußlichen Details aus dem Leben der Wilden Amerikas natürlich gut verkaufen. Darum finden wir neben der Anthropophagie noch andere Sensationen, die dazu geeignet waren, die Hirne der europäischen Leser anzuregen: Promiskuität, sexuelle Ausschweifung, Inzest, Magie, Fabelwesen usw. (Überhaupt paart sich der Kannibalismus bemerkenswert oft mit anderen Ungeheuerlichkeiten aus europäisch-christlicher Sicht. Nach dem Motto: „Wer schon Menschen frißt, dem ist alles zuzutrauen!“) Dazu muß noch die Lesererwartung bedacht werden. Wer sich einen Bericht aus dem Kannibalenland Amerika zulegt, möchte auch gerne von derlei Sensationen lesen – dadurch wurdendie Berichte ja auch erst stimmig. Kannibalismus als Kauf- und Verkaufsargument also.

Es gibt aber noch ökonomische Interessen anderer Art: So gibt der spanische König bereits 1502 einen Erlaß heraus, der besagt, daß das christlich begründete Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels außer Kraft gesetzt sei, wenn es sich bei den Versklavten um Kannibalen handle. Prompt beeilen sich sämtliche Sklavenhändler und solche, die es werden wollen, zu versichern, jeder einzelne aus ihrem „Warenangebots“ stamme aus einem kannibalischen Stamm, die natürlich in der Folge wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein ähnliches Argument findet sich auch außerhalb Europas. So rechtfertigten auch arabische Sklavenhändler ihre Beutezüge in Ostafrika damit, daß es sich dabei ja nur um Kannibalen handle. Als dann die europäischen Sklavenhändler den ostafrikanischen „Markt“ für sich entdeckten, bemühten sich die Araber, – man bemerke die Ironie – den Ostafrikanern zu versichern, die Europäer seien Menschenfresser. Damit wollten sie erreichen, daß jene den Europäern soweit es irgend ging aus dem Wege gehen, um nur ja nicht von ihnen gefangen zu werden. Man wollte sich ja von den Europäern nicht das Geschäft kaputt machen lassen.
            
Die Diffamierung der indigenen Völker hatte auf offizieller Seite noch weitere Gründe. Sie diente zur Legitimation der imperialen und missionarischen Absichten. Ob nun aufrichtig empfunden oder nur zynisch vorgeschoben: Die „Bürde des weißen Mannes“, die Zivilisation in der Welt zu verbreiten, wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder als Begründung und Rechtfertigung zur Bildung kolonialer Reiche beschworen. Der christliche Missionar konnte bei seinem Werk auf zusätzliche finanzielle und andere Unterstützung hoffen, wenn er berichtete, bei seinen Missionsobjekten handle es sich um Kannibalen – und damit gleichzeitig seinen Wagemut und sein unerschütterliches Gottvertrauen unter Beweis stellen. Das brutale Vorgehen der europäischen Expeditionstrupps, Entdecker, Abenteurer, Hasardeure und Glücksritter gegen die indigene Bevölkerung stieß in der Heimat oft auf Kritik. Diese Kritik konnte etwas abgemildert werden, wenn man im Nachhinein zu seiner Verteidigung behauptete, bei den Opfern habe es sich um Menschenfresser gehandelt (wie dies z. B. für die Azteken geschah). Es hat doch bloß menschenfressende Barbaren getroffen.
            
Die Gewohnheit, indigene Völker als kulturlose Barbaren und Menschenfresser darzustellen, ist also eine Strategie (ob böswillig oder nicht), die Errichtung von Kolonialreichen zu legitimieren.
            
Was hier für die Vorstellung, Amerika sei ein Kontinent voller Kannibalen, ausgeführt wurde, trifft auf ähnliche bis gleiche Weise auch auf Afrika und Ozeanien zu. Arens und Frank zeigen auf, daß dies sogar für die Ethnologie bis ins 20. Jahrhundert gilt. Augenzeugen für Kannibalismus gibt es nicht. Berichte über Kannibalismus stützen sich nur auf Hören-Sagen, auf die Behauptungen anderer (!), dem betreffenden Volk z. T. feindlich gesinnter Stämme und Gruppen oder lediglich auf Interpretationen von Funden und Beobachtungen, die sich auch ohne den Kannibalismus plausibel erklären ließen.

Scheinbar ist der Kannibalismus gegenüber der Zivilisation wenig resistent. So erklärten sich Ethnologen die mehr als dürftige Beweislage für die Menschenfresserei damit, daß diese ja auch nie von westlichen Ethnologen beobachtet werden könne, da der Kannibalismus ja sofort mit Kontakt zur Zivilisation verschwunden sei oder weil z. B. die Urwaldbewohner Neuguineas dem Verbot des Kannibalismus durch die englische und niederländische Kolonialregierung (sic!) Folge leisteten. Damit stünde allerdings der Kannibalismus, der ja als so essentielles Element primitiver Kulturen daherkommt, im krassen Gegensatz zu anderen kulturellen Eigenheiten wie Kopfjagd, Magie und Polygamie etc., die sich zum steten Verdruß weißer Siedler, Kolonialbeamter und christlicher Missionare auch trotz Verbote und Zivilisationskontakt hartnäckig hielten und z. T. halten. Trotzdem wurde Kannibalismus von modernen Ethnologen als Fakt betrachtet: „Wenn er jetzt nicht mehr beobachtet werden kann, dann hat es ihn aber trotzdem früher gegeben.“ In dieser Logik fungiert also der Mangel an Beweisen als Beweis.
            
In den 1960er und 70er Jahren erforschte Daniel Gajdusek die tödlich verlaufende Krankheit Kuru, die den Stamm der Fore in Neuguinea heimsuchte. Er vermutete, daß Kuru durch den Verzehr des infektiösen Gehirns im Rahmen endokannibalischer Praktiken übertragen wird. Arens konnte sogar an dieser 1976 mit dem Medizinnobelpreis gewürdigten Forschungsarbeit akribisch zeigen, daß auch Gajduseks Kannibalismusannahme auf Hören-Sagen, Fremdzuschreibung und unsicherer Interpretation beruht. Auch Gajdusek hat nie ein kannibalisches Ritual mit eigenen Augen gesehen! Die Übertragung der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die so verblüffende Ähnlichkeiten mit Kuru aufweist, ist immer noch nicht restlos erforscht. Interessant: Sie wurde jedoch noch nie mit kannibalischen Ritualen zu erklären versucht. Der von mir vermutete Grund hierfür ist: Creutzfeldt-Jakob tritt in Europa auf.
            
Analog hierzu muß noch erwähnt werden, daß es zahlreiche Dokumente mit Unterstellungen, Zeugenaussagen und unter Folter abgepreßten Geständnissen gibt, die zeigen sollen, daß im europäischen Mittelalter und in der frühen Neuzeit jüdische Gemeinden, Hexen und Ketzergruppen Kannibalismus und Ritualmorde praktiziert hätten. In der heutigen Wissenschaft dienen diese Zeugnisse nur noch dazu, die Vorstellungen zu erforschen, die es über diese sozialen Außenseiter gab. Es wird keinesfalls ernsthaft angenommen, daß dadurch die reale Existenz kannibalischer Sitten unter Juden und Häretikern bewiesen werde. Die Dokumentation von Kannibalismus in Amerika, Afrika und Ozeanien ist jedoch nicht besser.
            
Ein letztes Wort noch über die prähistorische Anthropophagie: Archäologen und Prähistoriker nehmen an, daß die Kulturen heutiger und in den letzten Jahrhunderten „entdeckter“ primitiver Völker Rückschlüsse auf das Leben des frühen Menschen zulassen. Diese primitiven Völker seien also auf einem alten Entwicklungsstadium gleichsam „hängengeblieben“. Unabhängig davon, für wie schlüssig und zuverlässig wir diese Theorie nun halten – für unser Thema gilt: Da die Ethnologie bis ins späte 20. Jahrhundert kulturellen Kannibalismus als Fakt präsentierte, ließ dies die Interpretation archäologischer Funde natürlich nicht unbeeinflußt. Auch hier zeigt sich, daß z. B. abgenagte Menschenknochen als Hinweis auf Kannibalismus interpretiert wurden, obwohl es zumindest genauso plausibel erscheint, daß es Tiere waren, die an den Knochen genagt hatten.
           
Dieses Kapitel zusammenfassend möchte ich konstatieren, daß unsere Hinweise auf rituellen Kannibalismus auf

  • Hören-Sagen
  • Fremdzuschreibungen
  • aus Folter hervorgegangenen Geständnissen
  • gewagten bis unplausiblen Interpretationen

bauen.

Die Vorwürfe des Kannibalismus an verschiedene Gruppen beruhen auf

  • sich selbstbestätigenden Erwartungen
  • Mißverständnissen
  • Diffamierung
  • verkaufsfördernden Publikationsstrategien
  • Rechtfertigung des Sklavenhandels und des brutalen Vorgehens gegen indigene Völker
  • Legitimierung kolonialer und imperalistischer Absichten

Damit ist nicht bewiesen, daß es kuturell bedingten Kannibalismus nicht gab. Es wird lediglich gezeigt, daß dessen Existenz eben nicht bewiesen ist. Und die Beweislast liegt auf Seiten derer, die die Existenz des Kannibalismus behaupten. Stand der Forschung heute ist jedenfalls, daß es rituelle Anthropohagie wohl nie gab.       

Anthropophagie und Literatur

Den Topos der Anthropophagie finden wir nicht nur in Reiseberichten und ethnographischer Forschung, sondern in zahlreichen Formen auch in der Literatur und der Mythologie. Bereits die weltweiten Mythen von der Schöpfung der Welt kommen nicht ohne kannibalischen Akt aus. So war die Sonne im Mythos der südamerikanischen Chipaya ein dunkelhäutiger mit einer Federkrone geschmückter Mann, der andere Menschen verspeiste bis er an einen Mann gerät, der es schafft den Sonnen-Menschen zu töten. Es wird Nacht und am nächsten Tage übernimmt der älteste Sohn des Sonnen-Menschen dessen Position und das Spiel und der Kampf beginnt von neuem.
            
Auch in griechischen Mythen stoßen wir immer wieder auf Menschen- bzw. Götterfresser. Zeus' Sohn Dionysos wird frischgeboren von den Titanen verschleppt. Um seine Entführer zu verwirren, verwandelt sich Dionysos abwechselnd in eine Ziege, eine Schlange, einen Löwen, einen Tiger und schließlich in einen Stier. Dann wird es den Titanen zu bunt und sie reißen den stiergestaltigen Dyonisos in Stücke und fressen sein rohes Fleisch bis auf den Kopf. Zeus nun, verständlicherweise verärgert, rächt sich an den Titanen und tötet sie mit seinen Blitzen. Aus der Titanenasche entstehen die Menschen. (Dyonisos konnte von Athene anhand seines übrig gelassenen Kopfes glücklicherweise wiederhergestellt werden.) Im zyklischen Weltbild der Mythen braucht es also immer etwas, das vergeht, um den Menschen oder etwa die ruhespendende Nacht zu erschaffen. Damit einher geht oft ein brutales Sich-Einverleiben.  
            
Auch in der Odyssee wird von Menschenfressern berichtet. Nach der Idylle auf der Insel der Lotophagen folgt für Odysseus und seine Gefährten in harschem Kontrast die Bedrohung durch den menschenverspeisenden Kyklopen Polyphem, der in der Folge in der antiken und mittelalterlichen Literatur zum Ahnvater der wilden, zivilisationslos in der Natur hausender Männer wird. In der Odyssee wird der Kyklop jedoch – und das wird später wichtig – auch als Hirte präsentiert, der sich auf sein Käsereihandwerk versteht. Aber der Barbar bricht in ihm durch:

            Also sprach ich [Odysseus], und nichts versetzte der grausame Wüterich [Polyphem],
            Sondern fuhr auf und streckte nach meinen Gefährten die Hand aus,
            Deren zween anpackt' und wie junge Hund' auf den Boden
            Schmetterte: blutig entspritzt' ihr Gehirn, und netzte den Boden.
            Dann zerstückt' er sie Glied vor Glied und tischte den Schmaus auf,
            Schluckte darein, wie ein Leu des Felsengebirgs, und verschmähte
            Weder Eingeweide, noch Fleisch, noch die markichten Knochen.
            Weinend erhuben wir die Hände zum Vater Kronion,
            Als wir den Jammer sahn, und starres Entsetzen ergriff uns.
            Doch kaum hatte der Riese den großen Wanst sich gestopfet
            Mit dem Frasse von Menschenfleisch und dem lauteren Milchtrunk,
            Siehe, da lag er im Fels weithingestreckt bei dem Viehe.


Hier wird der Menschenfresser in seiner Roheit präsentiert.
            
Auch in den Märchen finden wir dies: So ist die Hexe in Hänsel und Gretel ein Sinnbild für das Außenseitertum. Fernab der Siedlungen wohnt die alte Frau im Wald und lockt ihre Opfer mit dem Lebkuchenhaus in die Falle. Auch Hänsel wird in einen Käfig gesteckt, um gemästet zu werden. Vor der Schlachtung jedoch gelingt es den Geschwistern, die bedrohliche Alte in ihren eigenen Ofen zu stoßen. Damit besiegen sie nicht nur die dunkle Bedrohung im finsteren Walde sondern auch die im eignen Heim: Als sie zum Vaterhaus zurückkehren, ist die böse Stiefmutter, die ihre Aussetzung ja veranlaßt hat, gestorben und die Familie lebt von nun an glücklich wiedervereint harmonisch beisammen.
            
Einen anderen Weg wählt Michel de Montaigne (1533-1592) in seinem Essay Des Cannibals. Hier wird der Kannibalismus als Teil einer paradiesisch-ursprünglichen Kultur (der edlen Wilden) der Tupinambá in Brasilien präsentiert. Er spricht hierin den Europäern das Recht ab, über die Tupinambá aus übergeordneter Perspektive zu urteilen. Gewiß: Die Tupinambá seien vor der Vernunft Barbaren und ihr Kannibalismus ein Ausdruck davon, doch foltern die Europäer die Häretiker und verfolgen sie mit Feuer. Also seien auch die Europäer vor der Vernunft Barbaren. Gleichfalls seien die Europäer gar die roheren Gesellen, denn es sei besser, tot verspeist als lebendig verbrannt zu werden.
            
Auch in der modernen Literatur findet man das Thema des Menschenfressers. In Bret Easton Ellis' Roman American Psycho haben wir es mit dem New Yorker Yuppie Patrick Bateman zu tun, der auf grausame Art Menschen tötet. Gleichzeitig dienen ihm Marken als Fetisch und er verachtet andere Mitbürger, die seinen auf Konsum fixierten Lebensstil nicht teilen wollen oder können. Er kennt, wie scheinbar auch seine Yuppie-Umwelt, keine zwischenmenschliche Nähe, keine Freundschaften oder Loyalitäten. Er konsumiert mit kalter Gleichgültigkeit sowohl Waren als auch Menschen, um seine innere Leere zu füllen. Nicht nur, daß er seine Opfer auf jede denkbare Art scheußlich zu Tode foltert, er berauscht sich auch am Geschmack ihres Blutes und Fleisches, bewahrt sogar Leichenteile in seinem Kühlschrank auf. Hier wird der Kannibalismus auch ins ökonomische gewendet: Der Yuppie als Stellvertreter eines radikalen Kapitalismus' und des deindividualisierenden Konsumterrors, als perfektionierter entmenschlichter Mensch verschlingt er die anderen Mitglieder der Gesellschaft – in American Psycho nicht nur allegorisch, sondern tatsächlich.
            
Die Beispiele für Darstellungen von Menschenfresserei in Literatur (und auch in bildender Kunst und Film) könnten hier fast beliebig erweitert werden – sie sind Legion.

Die Faszination

Warum also scheint der Kannibalismus ein so essentieller Part der menschlichen Imagination zu sein?
            
Psychoanalytisch ist der Vorgang des Essens stets mit der Paradoxie von nährend – zerstörend, von Wohlbehagen – Schuld verbunden. Besonders das Essen von Fleisch ist schuldbeladen, muß doch der Nahrungslieferant zuvor streben, ja oftmals gar getötet werden. Die so entstandene Schuld kann nun leicht auf andere übertragen und abgewälzt werden, die noch viel Ungeheuerlicheres tun: nämlich Menschen essen. Auch erinnert Tierfleisch selbstverständlich an Menschenfleisch. Hinzu kommt noch die in alter Zeit durchaus berechtigte Angst gefressen zu werden, nämlich von wilden Tieren. Auch diese Angst vor dem Tier im feindlichen Wald kann schnell auf den unheimlichen Fremden übertragen werden. 

Das Essen ist ein gemeinschaftsstiftender Akt. Der Mensch ißt nicht gern allein und auch für unsere heutige Kultur stimmt ja noch: Man kocht und ißt gemeinsam mit seiner Familie oder seinen Freunden. Wer mit mir ißt, ist mir nicht fremd, der gehört zu mir. Wenn soziale Gemeinschaften gebildet werden, schließt dies gleichzeitig andere aus diesen Gemeinschaften aus. Sie werden zu anderen. Du bist anders, weil du nicht mit uns ißt – du ißt nicht mit uns, weil du anders bist, weil du anders ißt. Auch diese anthropologische Konstante erzeugt Vorstellungen, die den anderen durch seine Eßgewohnheiten definieren. Da ist es nur ein kleiner Schritt, dem Fremden widernatürliches, ekelhaftes und tabuisiertes Essen und schließlich Kannibalismus zu unterstellen.


(Daß Fremde oft über ihre anderen Eßgewohnheiten definiert und diffamiert werden, ist offensichtlich: "Spaghettifresser" für die italienischen Gastarbeiter in den 60ern, Engländer nennen Franzosen abschätzig "frogs", weil in Frankreich Froschschenkel als Delikatesse gelten, Muslime grenzen sich vom Westen, von den "Schweinefleischfressern" oder "Kartoffeln" ab, amerikanische Soldaten sprachen im Vietnamkrieg verächtlich von den "rice eaters" und Mitteleuropa blickt herablassend auf die "Knoblauchfresser" vom Balkan und so weiter.)
            
Der Vorstellung von Kannibalismus wohnt auch die Faszination der Metamorphose inne: Das Menschenfleisch nährt den Menschen, aus Gestorbenem und Totem wird Leben. Auch stellt die antropophage Idee die bange Frage nach der Stellung des Menschen in der Schöpfung, in der Welt: Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Worin liegt die Sonderstellung des Menschen begründet? Beim Kannibalismus wird die dünne Grenze vom zivilisierten Menschen zum Barbaren, vom Menschen zum Tier durchbrochen. Auch hier findet eine faszinierende Metamorphose statt: Durch den Akt des Kannibalismus verwandelt sich der Mensch zum Tier und zwar sowohl das Subjekt als auch das Objekt. Der Menschenfresser durchbricht mit seiner ungezähmten Wildheit die Schranke zum Tier und das Fleisch des Opfers dient wie das Fleisch des Tieres als Nahrung.
            
Als wertvoll, die Idee vom Kannibalismus zu verstehen, erweist sich auch die Ritualforschung. Sie stellt fest, daß es das kannibalische Mahl tatsächlich gab und gibt, jedoch nicht als kultische Realität, sondern als ritualbegleitende Fiktion: Tieropfer werden imaginativ zu Menschenopfern, verspeistes Tierfleisch zu Menschenfleisch aufgewertet. Dies entspricht der psychoanalytischen Kategorie der Sublimierung. Bei der Sublimierung werden unbewußte Triebe stellvertretend befriedigt (im Gegensatz zur Verdrängung, bei der sie unbefriedigt zurückbleiben und zu Zwangserkrankungen und anderen Leiden führen können). Beispielsweise ruft die Eucharistie die Fiktion Jesu Leib und Blut zu inkorporieren hervor. In der katholischen Transsubstantiationslehre wird ja gar bis heute behauptet, mit Hostie und Wein verschlinge der Gläubige nicht das Symbol des Leibes Christi sondern den Leib selbst.
            
Für die griechische Archaik ist die Sitte feststellbar, männliche Jünglinge vorübergehend aus der dörflichen Gemeinschaft zu verbannen und ihnen die Hege der Schaf- und Ziegenherden aufzuerlegen, während die Gemeinschaft weiterhin Landwirtschaft betreibt. Mit der Sorge um das Vieh, fallen die Jünglinge selbst in einen Status zwischen Vieh und Mensch zurück und gleichsam eine Sprosse in der menschlichen Zivilisationgeschichte tiefer – vom Seßhaften zum Nomaden. Sie legen also nicht nur eine räumliche Reise auf die abgelegenen Weiden zurück, sondern quasi auch eine zeitliche in die Vergangenheit. Nicht umsonst galten die Hirten im archaischen und antiken Griechenland als besonders wild und ungestüm (vgl. etwa den Hirten Polyphem), was bei pubertierenden jungen Männern unter sich wohl nicht verwundern kann. Nach dieser begrenzten Zeit jedoch werden sie von den Nachwachsenden abgelöst und kehren nun – gestählt durch die harten Jahre auf den Weiden – als heiratsfähige Männer in das Dorf zurück – eine Initiation also. Die Jugend (wohl im Unterschied zu heute) galt unter den Männern des alten Griechenland als eine entbehrungs-reiche (man darf aber annehmen: wohl auch als wild-romantische) Zeit – die finsteren Lehrjahre. Interessanterweise beobachten wir hier auch ein biomorphes Konzept, das die Menschheitsgeschichte mit der Geschichte des Individuums in Gleichklang setzt. Für die Menschheitsgeschichte gelten die drei Stadien:

  • das mythische, paradiesische Goldene Zeitalter, in dem die Natur den Menschen selbst versorgt, er sich nicht um seine Nahrung bekümmern muß
  • das Zeitalter der Nomaden, die rau und wild mit ihren Tieren lebten
  • das (jetzige) Zeitalter der Seßhaftigkeit, mit der die Zivilisation beginnt

Hiermit korrespondieren die drei Lebensalter des Mannes:

  • das kindliche Lebensalter, in dem man sich nicht um seine Nahrung bekümmern muß – die Mutter sorgt für einen
  • die Adoleszenz, während der man ein raues, wildes und entbehrungsreiches Leben auf den Weiden führen muß
  • das Mannesalter, in dem man heiratsfähig und seßhaft geworden mit der eigenen Familie auf dem eigenen Hof arbeitet

Wie wird nun diese Initiation rituell begangen? Für das Übergangsfest werden Schafe und Ziegen geschlachtet. Die neuen, angehenden Hirten verspeisen deren Fleisch, das symbolisch für die bewährten Hirten steht, die nun als Bauern und vollwertige Männer in die Dorfgemeinschaft wiederaufgenommen werden. Das Fleisch der Tiere wird also symbolisch zum Fleisch der Männer. Wichtig hierbei ist, daß die neuen Hirten bei diesem Fest ja aus eben dieser Gemeinschaft verstoßen werden – sie werden zu anderen, indem symbolisch eine zivilisationsgeschichtliche Regression stattfindet gepaart mit symbolischem Kannibalismus! Gleichzeitig „beenden“ die altgedienten Hirten ihren Kannibalismus und gehen zur Landwirtschaft über. In den Nachwirkungen dieses Initiationsritus' mag auch ein Hinweis darauf liegen, warum besonders oft nomadisch lebende Völker als Kannibalen verschrien waren (z. B. die Skythe bei Herodot, s. o.). Ihr Nomadentum galt nämlich als rückständig und barbarisch – und eben auch kannibalisch.      

Fazit

Wir haben gesehen, daß die Anthropophagie auf den Menschen eine Faszination ausübt, die sich zahlreich in Mythen, Märchen und Literatur niederschlägt. Sie beeinflußte und beeinflußt auch unsere Weltanschauung, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie bereit sogar Ethnologen waren, die sich der wissenschaftlichen Erforschung menschlicher Kultur(en) verpflichtet haben, den Kannibalismus als Faktum zu akzeptieren und als solches weiter zu kommunizieren.
            
Der Idee vom Kannibalismus wurzelt sowohl in Sublimations- und Substitutionsstrategien als auch in Urängsten und Urerfahrungen des Menschen, die dieser in die Realität projiziert und auf den anderen überträgt.
           
Ich bin mir nicht sicher, was überwiegt: Die Beruhigung darüber, daß es den kulturellen Kannibalismus wohl nie gegeben hat, oder die Beunruhigung über die Bereitwilligkeit, ihn den Außenseitern und „Randvölkern“ diffamierend zu unterstellen.     




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