Montag, 14. März 2011

Sinn und Katastrophe

Was hat uns Albert Camus zum Umgang mit der Katastrophe in Japan zu sagen?

Spätestens seit dem verheerenden Erdbeben mit anschließendem Tsunami von Lissabon 1755 ist es ein alter Hut, anhand von großen Naturkatastrophen die Theodizeefrage zu stellen (also die Frage nach der Vereinbarkeit von Gottes Allmacht und Güte und dem realen Schlechten in der Welt). Diesen Hut wollen wir uns heute angesichts der Katastrophe in Japan auch nur kurz aufsetzen und bemerken: Von Seiten der Religionsvertreter ist wie üblich zweierlei zu erwarten:
Erstens: Die Katastrophe in Japan sei Gottes Strafe für x. Anstelle von x steht gewöhnlich die persönliche Obsession des sich äußernden Geistlichen, also Homosexualität, Abtreibung, westliche Dekadenz allgemein etc. Eine Umkehr, eine Wende hin zu gottgefälligem Leben (also dem Leben, das die Gruppe, die der Geistliche vertritt, propagiert) sei nun nötig. In der Regel sind solche Plattheiten selbst den meisten Religionsanhängern peinlich. Diese warten mit einer anderen Erklärung auf.
Zweitens: Gottes Wege und Wille seien eben unergründlich. Bemerkenswerterweise wird dies oft von denjenigen verlautbart, die ansonsten recht genau die Auffassung Gottes zu Präimplantationsdiagnostik, Scheidung, Kreditwesen usw. darlegen können.

Sei's drum. Mich interessiert an dieser Stelle, was uns Albert Camus vor allem in seinem Roman "La peste" in einer Katastrophensituation zu sagen hat.

In "La peste" geht es kurz gesagt darum, daß die Stadt Oran von einer schlimmen Pestseuche heimgesucht und aus Quarantänegründen von der Außenwelt abgeriegelt wird. Der Roman spielt in der Stadt und zeigt den Umgang der eingesperrten Bewohner mit der Katastrophe.

"La peste" erschien 1947 - also nach Camus' philosophischer Essaysammlung "Le mythe de Sisyphe" und der Erzählung "L'étranger" und vor seinem Großessay "L'homme révolté". "La peste" stellt damit (auch inhaltlich) das Bindeglied zwischen den beiden philosophischen Hauptwerken Camus' dar. Denn in "La peste" entwickelt Camus den Gedanken des Absurden und der Revolte aus "Le mythe de Sisyphe" weiter und ergänzt ihn um den Aspekt der Solidarität, den wir in "L'homme révolté" ausgeprägt finden. Um es vorweg zu nehmen: aus Haltung wird Handlung.

Das Absurde entsteht laut Camus aus dem Verhältnis von der Forderung des Menschen nach Sinn und der sinnlosen, indifferenten Welt. (Das Absurde ist das Fehlen von Sinn.)
Der Bewußtseinswerdung des Absurden geht für gewöhnlich ein konkretes Ereignis voraus (meist der Tod eines Menschen), das in einer vernünftigen, geordneten Welt unerklärlich ist. In "Le mythe de Sisyphe" gibt Camus das Beispiel eines Immobilienhändlers, dessen Tochter stirbt. Dieses Ereignis "untergräbt" den Mann, nimmt ihm die Energie und den Glauben an einen Sinn - nichts ist mehr so, wie es zuvor war.
Der Mensch wird also von außen (durch Tod oder Katastrophe etwa) auf etwas gestoßen, das mit seiner Forderung nach Sinn nicht mehr vereinbar ist. Diese Diskrepanz gilt es, zu erkennen und das Absurde ins Bewußtsein zu heben.
Wichtig hierbei ist, daß das Absurde nicht in der Welt besteht. Die Welt ist nicht absurd, sie ist schlicht indifferent, gleichgültig. Auch der Drang und die Sehnsucht des Menschen nach Sinn und Vernunft in der Welt ist nicht absurd. Absurd ist die Kollision der beiden: Die Welt erfüllt nicht die Anforderungen, die der Mensch an sie stellt. Das Absurde existiert also nicht autonom, sondern nur in Relation, im Verhältnis Mensch - Welt.

Wie kann auf das Absurde reagiert werden? Hier diagnostiziert Camus drei prinzipielle Möglichkeiten:
Erstens: Erklärung der Kollision mit einer übergeordneten außerweltlichen Ideologie: z. B. Gott und Religion. (Für Camus als Ex-Kommunisten ebenso wichtig: Erklärung mit einer übergeordneten innerweltlichen Ideologie, z. B. Marxismus.) Laut Camus überdecken diese Sinnangebote das Absurde nur scheinbar, denn das Skandalon der Katastrophe bleibt ja bestehen. Der Sprung in den Glauben (Søren Kierkegaard), also in die Rationalisierung durch Irrationalisierung, scheint Camus nicht die geeignete Antwort.
Zweitens: Der Regreß (also das Verfallen in Apathie) und der Suizid. Beides sind Fluchten, die dem Absurden letztlich ausweichen. Die richtige Antwort auf das Absurde sei vielmehr
Drittens: Die Revolte. Der Begriff meint natürlich nicht die Revolte im politischen Sinne, sondern vielmehr: "sich empören".
Mit Sisyphos kommt ein wichtiger Aspekt in die Deutung der Revolte nach Camus: sich in das Leid fügen, ohne aufzuhören, dagegen zu revoltieren. Damit ist gemeint: Sisyphos kann der Strafe der Götter, den Fels immer wieder den Berg hinaufzurollen, nicht entgehen - es ist, wie es ist. Doch wenn der Fels wieder ins Tal hinabrollt, hat Sisyphos kurz Zeit, sich bewußt zu werden. Hier kommt ein weiterer Aspekt Camus' Denken zum Vorschein: die Würde. Im Bewußtsein, im Moment des Abstiegs vom Berg zum Felsen hinab ins Tal, liegt die Würde des Sisyphos, liegt die Würde des Menschen. Weil ihm dieses Bewußtsein bleibt, soll man sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Hier, wie übrigens auch in "L'étranger", ist Revolte vornehmlich Haltung.
In "La peste" und schließlich in "L'homme révolté" wird sie zur Handlung, ja zur Handlungsaufforderung. Der Mensch in der Revolte ist zur Solidarität aufgefordert. In "La peste" wird das deutlich an der Figur des Journalisten Rambert, der nicht aus der Peststadt flieht, obwohl er es könnte, weil er sich gegen die Pest empören möchte. Er ordnet sein individuelles Wohl dem Allgemeinwohl unter und hilft ganz praktisch bei der Pflege und Versorgung der Pestkranken mit. Denn Rambert könne sein persönliches Wohl nicht genießen, wenn er flöhe, müsse sich vielmehr schämen. In diesem Entschluß ist Rambert frei. Camus räumt dem Menschen nämlich qua Existenz Entscheidungsfreiheit ein. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt (Jean-Paul Sartre). Diese Freiheit erlangt der Mensch erst, wenn er die Hoffnungen fahren läßt, das heißt z. B. die Hoffnung auf außerweltliche oder innerweltliche Erlösung. Auf den ersten Blick scheint diese Feststellung negativ, ja pessimistisch, doch sowohl Camus als auch Sartre (die beiden Hauptvertreter des Existentialismus) werden nicht müde, zu betonen, daß es sich hierbei um eine positive Aussage handelt: "L'existentialisme est un humanisme" (Sartre). Laut Camus entsteht nämlich aus der Hoffnungslosigkeit erst die würdige Lebensführung; eben die Revolte.
Hier ein kurzes Schema, wie die Revolte nach Camus gemacht werde:
1. Ereignis: zum Beispiel die Katastrophe, die die gewohnte Weltsicht "untergräbt".
2. Kollision: Aus dem Sinnanspruch des Menschen und der Sinnlosigkeit der Welt ergibt sich das Absurde; das Absurde tritt in das Bewußtsein.
3. Hoffnungslosigkeit: die Einsicht, daß weder Religion noch Ideologie, den Riß befriedigend kitten können; Würde durch Haltung.
4. Revolte: Empörung gegen das Sinnlose durch Solidarität.

Was folgt nun daraus für den Umgang mit großen und kleinen, mit allgemeinen und persönlichen Katastrophen? Was folgt daraus für den Umgang mit der Katastrophe in Japan?
Zunächst auf der Ebene der Haltung: Mißtrauen wir all jenen, die in der Katastrophe einen Sinn sehen wollen. Sie ist weder Strafe Gottes noch die Rache der Natur, die für irgendetwas zurückschlägt. Nein, der Welt sind wir mit unseren Bedürfnissen und Hoffnungen egal - das Universum schuldet uns keinen Sinn, schuldet uns keinen Trost. Dies ist freilich leichter gesagt vom Standpunkt eines mitteleuropäischen Schreibtisches aus als vom Standpunkt eines Menschen, der durch Erdbeben und Tsunami seine liebsten Mitmenschen, sein Hab und Gut, ja seine Heimat gar verloren hat. Doch prinzipiell gilt für alle: Die Bewußtwerdung und Akzeptanz des Absurden verleiht dem Menschen Würde, vielleicht sogar Kraft. Denn aus ihnen folgt für unsere Handlung eben nicht Resignation, sondern Revolte. Und Revolte heißt in diesem Sinne Solidarität, also scheinbar banal, da so offensichtlich: Hilfe, konkrete Hilfe. Das heißt für uns in Europa beispielsweise Hilfe durch unsere Regierungen, indem sie Material, Personal, Geld und Wissen zur Verfügung stellen, um die Not zu lindern. Es heißt auf Ebene des einzelnen Bürgers zum Beispiel öffentlich und symbolisch Solidarität zu signalisieren und konkret: zu spenden. Wir dürfen Fatalisten sein, ja eigentlich sollten wir es sogar. Aber wenn schon Fatalismus, dann nur aktiver Fatalismus.

Samstag, 5. März 2011

Moral und Politik




Fragen ohne Antworten

Dem Ausspruch Karl Valentins folgend "Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen!" möchte also auch ich meinen Sermon zur Causa Guttenberg zum besten geben.
Was ist geschehen? Guttenberg hat in seiner Doktorarbeit in unzulässiger Weise geschummelt, ja betrogen - das ist offensichtlich und bewiesen.
Er gab sein Amt als Verteidigungsminister auf.
Hier stellt sich die Frage: Warum? War seine Doktorarbeit der Qualifikationsnachweis für das Amt des Verteidigungsministers? Sicher nein. Warum also tritt ein Minister zurück, wenn er sich innerhalb seines Amtes und während seiner Amtsperiode nichts zuschulden hat kommen lassen (wir lassen beiseite, ob sein Krisenmanagement der Gorch-Fock-Affaire glücklich war, oder nicht)?
Der Begriff, um den die Diskussion zirkelt, heißt: Glaubwürdigkeit. 
Ein Aspekt des Komplexes Glaubwürdigkeit interessiert mich hier:  Wir (und damit meine ich ganz verallgemeinernd: die Wähler) erwarten von einem Politiker, daß er eine Vorbildfunktion wahrnimmt. Ist eine solche Erwartung zulässig? 
In einer medial breit zur Kenntnis genommenen Aktion haben Wissenschaftler und Doktoranden ihrer Empörung Raum gegeben mit der Grundaussage, die Wissenschaft leide darunter, wenn jemand, der seinen Doktortitel nicht ehrlich erworben hat, Minister bleibe. „Wie soll ich meinen Studenten erklären, daß sie bei Hausarbeiten nicht kopieren dürfen, wenn ein Guttenberg Minister ist?“, so ließen verschiedene Professoren sinngemäß verlauten. Und in einer Straßenumfrage für den BR fragte eine Frau die Nation: „Wie kann ich meinen Kindern jetzt noch erklären, daß sie ehrlich sein müssen?“ Kann man das denn nicht mehr erklären? Steht und fällt Ehrlichkeit als Wert mit der Ehrlichkeit eines Politikers? Hätte es, wenn Guttenberg Minister geblieben wäre, für den Professor und für die Mutter keine Argumente mehr gegeben?
Was dahinter unausgesprochen steht, ist das Bedürfnis nach moralischer Führung. Ein Politiker wird nicht nur als Organisator wahrgenommen, sondern als Leitfigur. In der hochkomplexen politischen Arena mit ständig wachsenden Interdependenzen, die Sachzwänge hervorbringen, schrumpft der Spielraum für politische Entscheidungen. Ein Politiker ist in seiner alltäglichen Arbeit mehr Organisator vorhandener Probleme denn Entscheidungsträger, mehr Re-Akteur denn Akteur. Dies steht seltsam unverbunden neben der Erwartung, moralisch zu führen. Im Kern: Brauchen wir den Berufspolitiker oder den moralischen Führer?  Zugespitzt: Ist ein Minister mit sauberer Doktorarbeit ein besserer Organisator für den Umbau der Bundeswehr? Ist ein „einwandfreier“ Verteidigungsminister mehr wert als eine gelungene Bundeswehrreform?
Ist in einer längst pluralistischen Gesellschaft die moralische Erwartungshaltung gegenüber Politikern überhaupt noch zeitgemäß? Oder ist es gerade andersherum: Wächst die moralische Anspruchshaltung, eben weil Politik immer mehr von Sachzwängen bestimmt scheint?