Menschenfresser, Kannibalen - Überlieferung und Literatur sind voll davon. Doch gab und gibt es das wirklich? Nein: alles Mythos, meine ich.
Die Welt kennt den Menschenfresser. Der
europäische Mensch des Mittelalters und der frühen Neuzeit sah sich von
Kannibalen in allen Himmelsrichtungen umzingelt, jedoch fernab der europäischen
Zivilisation, ja er/sie vermutete sie gar mitten unter seinesgleichen: Juden,
Hexen und Ketzer. Heute sucht man den Kannibalen / die Kannibalin nur noch in
den tiefsten Urwäldern Brasiliens und Neuguineas, wiederum fernab der
Zivilisation. Überhaupt ist der Kannibalismus immer der Gegenbegriff von
Zivilisation und er befindet sich gleichsam auf dem Rückzugsgefecht überall
dort, wo die (westliche) zivilisationsbringende Fackel in die dunklen Räume
Afrikas und Südamerikas leuchtet. Heute also – wir sagten es – fast überall.
Die Antithese „Kannibalismus – Zivilisation“ finden wir auch am Werke, wo der Kannibalismus innerhalb der zivilisierten Gesellschaft auftritt. Wie zum Beispiel beim Fall des zum Schlagwort erstarrten „Kannibalen von Rotenburg“ Armin Meiwes, der 2006 vom Landgericht Frankfurt am Main wegen Mordes und Störung der Totenruhe zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Meiwes hatte über diverse Internetforen jemanden gesucht, den er schlachten und verspeisen könne. Und wurde fündig. Die Medien stürzten sich sensations-gierig auf das ihnen dargereichte Fressen und selbst Blätter wie der Spiegel und die Zeit, die den Selbstanspruch ausgewogener und relevanter Berichterstattung in ihren Wappen tragen, konnten der Versuchung nicht widerstehen, den „Fall“ immer wieder düster bebildert in allen grausigen Details dem Leser auf dem Tablett zu servieren. Tenor: „Wie konnte diese Ungeheuerlichkeit mitten in unserer zivilisierten Gesellschaft stattfinden? Die Barbarei bedient sich gar der zivilisatorischen Errungenschaften, wie des Internets, um ihre grausamen Feste zu feiern!“ Der subversive Kannibale als Bedrohung für die Zivilisation.
Die Antithese „Kannibalismus – Zivilisation“ finden wir auch am Werke, wo der Kannibalismus innerhalb der zivilisierten Gesellschaft auftritt. Wie zum Beispiel beim Fall des zum Schlagwort erstarrten „Kannibalen von Rotenburg“ Armin Meiwes, der 2006 vom Landgericht Frankfurt am Main wegen Mordes und Störung der Totenruhe zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Meiwes hatte über diverse Internetforen jemanden gesucht, den er schlachten und verspeisen könne. Und wurde fündig. Die Medien stürzten sich sensations-gierig auf das ihnen dargereichte Fressen und selbst Blätter wie der Spiegel und die Zeit, die den Selbstanspruch ausgewogener und relevanter Berichterstattung in ihren Wappen tragen, konnten der Versuchung nicht widerstehen, den „Fall“ immer wieder düster bebildert in allen grausigen Details dem Leser auf dem Tablett zu servieren. Tenor: „Wie konnte diese Ungeheuerlichkeit mitten in unserer zivilisierten Gesellschaft stattfinden? Die Barbarei bedient sich gar der zivilisatorischen Errungenschaften, wie des Internets, um ihre grausamen Feste zu feiern!“ Der subversive Kannibale als Bedrohung für die Zivilisation.
Die
öffentliche Darstellung des „Kannibalen von Rotenburg“ erreicht ihren
zweifelhaften Höhepunkt mit der Verfilmung Rohtenburg (2006) durch
Martin Weisz. Dort wird der Kannibalismus ins legendenhaft-verkitschte
Tragische befördert. Die technologische und ökonomische Kälte der Moderne
gebärt die Vereinsamung des Individuums, die von zwei Menschen nur im extremen
Akt der leiblichen Hingabe einerseits und der gütigen Inkorporation
andererseits überwunden wird. Kannibalismus als Zivilisationskritik.
Die
Welt kennt den Menschenfresser. Er begegnet dem Kinde bereits in den Märchen.
In Hänsel und Gretel möchte die soziale Außenseiterin, die Hexe, den
Knaben verspeisen. Im Mythos verspeist der Titanenführer Kronos seine Kinder.
Und auch in Filmen wie The Silence of the Lambs untergräbt der
Kannibale den Konsens, daß der Mensch kein Menschenfleisch esse.
Woher
diese Faszination? Warum begegnet uns die Anthropophagie in Kunst und Mythos so
zahlreich? Warum mußten und müssen sich die Ureinwohner Amerikas, Afrikas und
Ozeaniens die Unterstellung von westlicher Seite gefallen lassen, sie seien
Kannibalen oder es zumindest gewesen? Warum wird / wurde die Überzeugung,
es habe kulturell sanktionierten Kannibalismus gegeben, mit einer solchen Vehemenz
aufrechterhalten, die durch die Lage der Dokumentation überhaupt nicht
nahelegt wird?
Die
Welt kennt den Menschenfresser. In dieser Arbeit möchte ich dem Mythos der
Antropophagie nachgehen. Zunächst widmen wir uns der Dokumente, die die reale
Existenz der Anthropophagie behaupten. Dann fragen wir nach der
Menschenfresserei in der Literatur, um im letzten Teil eine Konklusion zu
veruchen und zu erklären, woher der Kannibalenmythos rührt.
Realität und Mythos
1. Definition
Es gibt verschiedene Formen der Vorstellung von
Anthropophagie. Die wohl gängigste und grundsätzliche Unterscheidung trifft man
mit der Einführung der Begriffe Endokannibalismus und Exokannibalismus.
Mit Endokannibalismus meint man, den Verzehr von Menschenfleisch von
Mitgliedern der als „eigen“ empfundenen Gruppe, also einfach gesagt, das Essen
von Stammes- und Familienangehörigen. Wichtig für den Endokannibalismus
festzuhalten ist, daß die verspeisten Personen nicht getötet werden, um
als Nahrung zu dienen. Vielmehr dient der Kannibalismus hierbei als
Trauerritual.
Der
Exokannibalismus hat fremde Personen zum Opfer. Und hierbei kann man in der Tat
von „Opfer“ sprechen, da diese zum Zwecke der Verspeisung umgebracht werden.
Selbstverständlich ist die Vorstellung über Exokannibalismus sehr viel
wirkmächtiger, da von ihr eine direkte Bedrohung ausgeht und sie somit sehr
viel eher zur Sensation taugt als Formen der Trauerarbeit. Das potentielle
Opfer von Exokannibalismus ist nämlich der zivilisierte Mensch, der in die
Fänge von Barbaren gerät.
Nachdem
wir diese Unterscheidung getroffen haben, können wir auch noch mit
Unterkategorien arbeiten: Da gibt es zum einen den gastronomischen
Kannibalismus und zum anderen den rituellen Kannibalismus.
Die
Begrifflichkeit des gastronomischen Kannibalismus' unterstellt, daß Personen in
der Tat nur um ihres Nährwertes willen verspeist werden und / oder, weil
Menschenfleisch als besondere Delikatesse empfunden wird. Einen gastronomischen
Exokannibalismus kann man sich also so vorstellen, daß z. B. Kriegsgefangene
wie Nutzvieh gehalten und auch gemästet werden, um sie dann bei Gelegenheit –
vielleicht im Rahmen eines Festes, vielleicht auch nur ganz unspektakulär – zu
schlachten und zu essen. Ein gastronomischer Endokannibalismus hingegen wäre
es, wenn Verstorbene eines Stammes oder einer aus einer irgend anders
gearteten, als eigen empfundenen Gruppe verspeist anstatt bestattet zu werden
aus der quasi praktischen Überlegung heraus: Wenn er / sie schon mal tot ist,
kann er / sie auch gleich als Nahrung für die Lebenden dienen.
Ritueller
Kannibalismus verläßt den Bereich des Genusses und der Aufnahme von Proteinen
etc. und verleiht der Handlung eine stellvertretende Bedeutung, die ich als magisch
bezeichnen möchte. Das Mahl soll eine Funktion haben und – auf der analytischen Ebene – komplexe
lebensweltliche Erfahrungen vereinfachen und verarbeiten helfen. Bei rituellem
Endokannibalismus wird der / die Verstorbene von seinen / ihren Angehörigen
verspeist, z. B. um den Verlust des geliebten Verwandten zu kompensieren; Der /
die Verstorbene bleibt also symbolisch Teil der Gruppe, bleibt symbolisch
gegenwärtig, indem er / sie von den Weiterlebenden körperlich konsumiert, also
inkorporiert wird. Oder aber der / die Hinterbliebene erwartet sich von der Inkorporation des /
der Verstorbenen, daß dessen / deren Eigenschaften, wie Weisheit oder
Geschicklichkeit, oder dessen / deren Autorität auf ihn / sie übergehen. Dies kann bei aristokratischen Verstorbenen wichtig sein, um den Nachfolger zu
legitimieren, Dynastien zu konstruieren und Herrschaftsmacht zu übertragen.
Beim rituellen Exokannbalismus ist das Opfer ein Feind der anthropophagen Gruppe. Auch hieran können sich die magischen Erwartungen knüpfen, durch den Verzehr die Eigenschaften des Feindes auf sich selbst zu übertragen, wie z. B. Kampfesmut, Körperkraft etc. Oder aber die Inkorporation geschieht aus Rache und Aggressivität: Der Feind soll vollständig vernichtet werden. Hierbei folgt dem Sieg über den Lebenden noch der Sieg über dessen Leichnam. Dem rituellen Exokannibalismus geht oft auch der Ritualmord voraus.
Beim rituellen Exokannbalismus ist das Opfer ein Feind der anthropophagen Gruppe. Auch hieran können sich die magischen Erwartungen knüpfen, durch den Verzehr die Eigenschaften des Feindes auf sich selbst zu übertragen, wie z. B. Kampfesmut, Körperkraft etc. Oder aber die Inkorporation geschieht aus Rache und Aggressivität: Der Feind soll vollständig vernichtet werden. Hierbei folgt dem Sieg über den Lebenden noch der Sieg über dessen Leichnam. Dem rituellen Exokannibalismus geht oft auch der Ritualmord voraus.
Dies
sind die vier Formen des Kannibalismus, mit denen wir uns im folgenden
beschäftigen wollen. Um der Komplexität des Themas Rechnung zu tragen, soll
hier noch kurz erwähnt werden, daß man unter Kannibalismus auch nur die
Inkorporation von Körpersäften verstehen kann, wie z. B. Blut (Vampirismus).
Ebenso kann unterschieden werden, ob ein anderer oder der Esser selbst das
Objekt ist (Kannibalismus – Autokannibalismus; analog: Vampirismus –
Autovampirismus). Außerdem gilt zu beachten, ob das Objekt zum Zeitpunkt des
Verzehrs lebendig ist oder nicht (Lebendkannibalismus, Lebendvampirismus;
Autokannibalismus und Autovampirismus kann ohnehin nur so gedacht werden).
Schließlich
– und das ist sehr wichtig – muß noch dahingehend unterschieden werden, ob es
sich bei Kannibalismus um ein kulturell bedingtes, krankhaftes oder
aufgenötigtes Verhalten handelt. Die obig beschriebenen Spielarten des Endo-
und Exokannibalismus sind Beispiele eines kulturell bedingten Kannibalismus'.
Anthropophagie kann jedoch auch von psychiatrischen Erkrankungen, wie z. B.
Schizophrenie, hirnorganischen Schäden und sexueller Perversion rühren. Da diese Fälle pathologisiert sind, sind sie gesellschaftlich und kulturell
inakzeptabel und fallen somit in toto aus dem Muster der kulturellen
Anthropophagie.
Unter
Not- oder Hungerkannibalismus versteht man den Verzehr von Menschenfleisch
unter extremen Bedingungen und in Ermangelung alternativer Nahrung. Bewiesen
und dokumentiert sind Fälle von Notkannibalismus etwa während der Belagerung
und Blockade Leningrads 1941-44 und nach einem Flugzeugabsturz in den
chilenischen Anden 1972. Für alle erwiesenen Fälle von Notkannibalismus gilt,
daß nur Leichen bereits Verstorbener gegessen wurden und niemand getötet wurde,
um als Nahrung zu dienen.
Für unser Thema interessiert uns nur Kannibalismus
- der an anderen
verübt wird
- bei dem Menschenfleisch
gegessen wird
- der kulturell
gebilligt und bedingt ist.
Wenn
im folgenden Text von Kannibalismus die Rede sein wird, so beziehe ich
mich auf Kannibalismus in der obig definierten Form. Doch gab es diese
Form des Kannibalismus' denn je?
2. Anthropophagie und Anthropologie
Nachdem wir mit all den gelehrten,
griechisch-lateinischen Definitionen (ritueller / gastronomischer Endo- /
Exokannibalismus) konfrontiert worden sind, mag die Frage etwas merkwürdig
klingen: Gibt oder gab es das, was hier definiert wird, überhaupt?
Psychisch-krankhaften
Kannibalismus und Hungerkannibalismus gab es in der Tat. Dies ist umfassend und
stichhaltig dokumentiert. Doch gilt das auch für kulturellen Kannibalismus? Sind uns nicht allen jene
Berichte bekannt, in denen primitive Ureinwohnergesellschaften Südamerikas, Afrikas und Neu-Guineas als kannibalisch
beschrieben werden – und zwar von Entdeckern, Reisenden und Ethnologen
gleichermaßen?
Diese
Berichte gibt es zweifellos. Im folgenden werden wir sehen, daß deren
Glaubwürdigkeit und Beweiskraft jedoch sehr gering sind.
Zunächst
ist festzustellen, daß der Kannibalismus stets ein
Jenseits-der-Grenzen-Phänomen ist. Es gibt nicht eine Gruppe, die sich
selbst und gegenwärtig als kannibalisch beschreibt. Kannibalismus
findet also immer nur außerhalb der eigenen Gruppen-Grenzen oder in der (mythischen) Vergangenheit statt. Oder
aber er „betrifft“ Gruppen, die als nicht dazugehörig und subversiv empfunden
werden, also soziale Außenseiter, in der Antike etwa Christen, im christlichen
Europa etwa Juden, Hexen und Ketzer. Die eigene Gruppe ist stets vom
Kannibalismusvorwurf ausgenommen. Kannibalismus ist also ein Phänomen, das nur
in großer räumlicher, sozialer oder zeitlicher Distanz festgestellt wird.
Für
die europäische Kultur wird diese Art der Fremdcharakterisierung zum ersten
Male bei Herodot faßbar. In seinen Historien unterstellt er den
Massageten in Zentralasien, den Androphagen im europäischen Norden, den
Issedonen im heutigen Sibirien, den Skythen im Gebiet der heutigen Ukraine und
den indischen Padaiern anthropophage Sitten. Die fremden, weit entfernten Völker bekommen manchmal gar noch monströsere
Attribute verpaßt. So wird bei Herodot und 400 Jahre später bei Strabo allen
Ernstes behauptet am „Rande der Welt“ lebten nicht nur die Menschenfresser,
sonder auch einbeinige Menschen (die ihren übergroßen Fuß übrigens als
Sonnenschirm benutzen können), Menschen mit Hundeköpfen, Menschen ohne Köpfe
(deren Gesicht sich auf der Brust befinde), Einäugige und dergleichen mehr. In
diese Kategorien fällt auch der Menschenfresser. In der gesamten Antike wurde
diese Vorstellung als geographisches Wissen angesehen.
Das europäische Mittelalter übernahm diese Vorstellungen der monströsen Randvölker und so finden wir etwa in der Hamburgischen Kirchengeschichte des Adam von Bremen (ca. 1070), die Annahme oder die Behauptung, daß am nördlichen Rand Europas monströse Völker siedelten; und die Nordmänner des heutigen Skandinaviens natürlich Menschenfresser seien. Das heißt: Nur solange man nicht mit ihnen Kontakt hatte. Im Zuge der christlichen Mission Dänemarks und Schwedens wurde die dortige Bevölkerung nicht mehr als Menschenfresser angesehen. Dafür aber die noch nördlicheren Lappen. Auch Marco Polo, der Ostasien bereiste, berichtet von Menschenfressern. Allerdings sind dies dann nicht die Inder oder Chinesen, also die Menschen und Gruppen, mit denen er es tatsächlich zu tun hat, sondern Bewohner vorgelagerter Inseln, die er nie betreten habe, von denen er aber wisse, weil man es so sage, daß Menschenfresser sie bewohnten. Dieser Bericht wurde sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein als (Mit-)Beweis gewertet, daß es im ozeanischen Raum Kannibalen gebe. Was jedoch im 20. Jahrhundert nicht so ernst genommen wurde, war der Umstand, daß Marco Polo auch noch berichtet, diese Menschenfresser hätten Hundeköpfe.
Das europäische Mittelalter übernahm diese Vorstellungen der monströsen Randvölker und so finden wir etwa in der Hamburgischen Kirchengeschichte des Adam von Bremen (ca. 1070), die Annahme oder die Behauptung, daß am nördlichen Rand Europas monströse Völker siedelten; und die Nordmänner des heutigen Skandinaviens natürlich Menschenfresser seien. Das heißt: Nur solange man nicht mit ihnen Kontakt hatte. Im Zuge der christlichen Mission Dänemarks und Schwedens wurde die dortige Bevölkerung nicht mehr als Menschenfresser angesehen. Dafür aber die noch nördlicheren Lappen. Auch Marco Polo, der Ostasien bereiste, berichtet von Menschenfressern. Allerdings sind dies dann nicht die Inder oder Chinesen, also die Menschen und Gruppen, mit denen er es tatsächlich zu tun hat, sondern Bewohner vorgelagerter Inseln, die er nie betreten habe, von denen er aber wisse, weil man es so sage, daß Menschenfresser sie bewohnten. Dieser Bericht wurde sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein als (Mit-)Beweis gewertet, daß es im ozeanischen Raum Kannibalen gebe. Was jedoch im 20. Jahrhundert nicht so ernst genommen wurde, war der Umstand, daß Marco Polo auch noch berichtet, diese Menschenfresser hätten Hundeköpfe.
Man
sieht hieran bestätigt, daß der Kannibalismus ein Randphänomen, ein
Jenseits-der-Grenzen-Phänomen ist. Die menschenfressenden Barbaren schieben
sich immer an den Rand der bekannten Welt. Nie erreicht man sie so ganz, denn
der Rand wächst mit dem Horizont. Bis zu Kolumbus. Oder?
Als
Christoph Kolumbus auf den karibischen Inseln landet und auf Ureinwohner
trifft, wähnt er sich ja bekanntermaßen an der Peripherie Ostasiens, am Rande
des Reiches des Großen Khan. Auch hatte er bei der Planung der Entdeckung einer
direkten Seeroute nach Indien u. a. Marco Polo als Reisevorbereitung studiert.
Ebenso war er davon überzeugt, daß jene antiken und mittelalterlichen
Weltbeschreibungen zutrafen. Kolumbus erwartete also auf Kannibalen zu
treffen.
Wen
er traf, waren Ureinwohner. Kolumbus versucht sich mit diesen Ureinwohnern zu
unterhalten. Unnötig zu erwähnen, daß diese keine gemeinsame Sprache fanden
(Kolumbus hatte auf seiner Reise einen Dolmetscher für arabisch dabei, der mit
der Situation jedoch selbstverständlich überfordert war). Also kamen zur
Verständigung nur Gebärden in Frage, was natürlich die Gefahr von fehlerhafter
Kommunikation und Mißverständnissen erhöht. Auch „fragte“ Kolumbus gezielt, ob
es hier denn Menschenfresser und Hundsköpfige et cetera gebe – und siehe da: Es
wurde bejaht. Die Ureinwohner „berichteten“, sie seien stets von einem fremden
Stamm bedroht, der mittels Booten auf ihrer Insel landete und sich ihnen
gegenüber aggressiv verhielte. Und ja, die seien Menschenfresser.
An
dieser Stelle muß gesagt werden, daß es sich bei der Charakterisierung fremder
und / oder feindlicher Völker als Menschenfresser nicht um ein europäisches
Spezifikum handelt. Ja, es hat gar den Anschein als sei es ein üblicher Topos die
anderen als Menschenfresser zu bezeichnen. So hielten und halten sogar
teilweise bis heute manche afrikanische Stämme die europäischen Kolonialisten
für Bluttrinker und Menschenfresser. Ebenso ist diese Zuschreibung an Europäer und verfeindete Gruppen unter den
Gesellschaften Neuguineas und der Karibik feststellbar. Chinesen wissen aus
mythischer Zeit zu berichten, daß ihre Ahnen selbst in dunkler Vorzeit
Menschenfresser gewesen seien, diese ungeheuerliche Sitte jedoch aufgaben,
nachdem sie dazu übergegangen waren, ein Reich zu bilden (und Landwirtschaft zu
betreiben).
(Die Chinesen sind darum auch das einzige mir bekannte Volk, das die
Anthropophagie für ihre eigene Kultur zu behaupten pflegte – jedoch nur
für die ferne Vergangenheit, bevor es das Reich gab. Man wird wohl nicht
fehlgehen, zu vermuten, daß die Behauptung, es habe früher die als barbarisch
empfundene Sitte der Menschenfresserei gegeben, eine Funktion hat – nämlich das
Reich und die Herrschaftsgewalt zu legitimieren und zur staatlichen Einheit zu
mahnen. Nach dem Motto: Seht her, wenn es den Herrscher nicht gäbe, fielen wir
wieder alle in die Barbarei zurück und würden wie früher Menschenfleisch
essen!)
Hier sehen wir schon, was die Behauptung, bestimmte Gruppen praktizierten
den Kannibalismus eigentlich für einen Hintergrund hat: Diffamierung und
Abgrenzung. Doch dazu später mehr.
Wie
es also dazu kam, daß Kolumbus zunächst verhalten, nach seiner zweiten Reise in
die Karibik aber mit Bestimmtheit, die Meinung vertrat, dort gebe es
Kannibalen, ist im einzelnen nicht festzustellen. War es ein schlichtes
Mißverständnis, hervorgerufen durch die schwierige Kommunikation mit den
Ureinwohnern? Kolumbus' suggestive Fragen nach Kannibalen und Hundsköpfigen
gepaart mit seiner Erwartung, dies bestätigt zu bekommen (schließlich
„bestätigten“ diese ja auch die Nachbarschaft zum sagenhaften Volk der
Amazonen, zu Hundemenschen und Einäugigen)? Oder hatten die Ureinwohner ihre
ihnen feindlich gesinnten Nachbarn als Kannibalen diffamiert? Gleich. Wichtig
bleibt festzuhalten, daß Kolumbus selbst nie für sich in Anspruch nahm,
Kannibalismus je beobachtet zu haben, was ihn nicht davon abhielt sich
für dessen Existenz zu verbürgen. Wir haben es hier also nur mit Hören-Sagen zu tun. Und zugleich wurde das
antiken Randvölkerkonzepts auf die (für die Europäer) Neue Welt
übertragen.
Diese
Übertragung war so erfolgreich, daß von nun an das Wort Kannibale
geboren war. Es leitet sich von der Eigenbezeichnung Caribe des Stammes
ab, den Kolumbus als erstes antraf (ironischerweise war dies eben jener Stamm,
der verneinte, Kannibalismus zu praktizieren, dies jedoch von seinen
Nachbarn behauptet haben soll). Mit Feld- und Wiesenetymologie kann man darin
sogar das lateinische Wort für Fleisch (caro) erkennen.
Spanisch-portugiesisch zu Caniba verballhornt wurde der Kannibale nicht
nur zum neuen Begriff für Anthropophagie, sondern zum Symbol Amerikas
schlechthin. So wurde die in Europa beliebte Erdteilallegorie, in der jeweils
eine oder mehrere Figuren mit markant-reduzierten Eigenschaften einen Erdteil
personifizieren, um die America erweitert. Zur märchenhaft-luxuriös
gekleideten Asia, zur nackten Africa und zur selbstverständlich bekleidet
kutschefahrenden, szepter- und kronegeschmückten Europa gesellt sich nun eine
ebenfalls nackte Kannibalin, die Leichenteile röstet. Amerika – das Land der
Menschenfresser.
Die
Übertragung der Vorstellung von Anthropophagie auf die Neue Welt bewirkte, daß Amerikareisenden
der frühen Neuzeit mit der festen Erwartung lossegelten, an ihrem Ziel auf
Kannibalen zu treffen. Der Geschichtsschreiber Petrus Martyr von Anghiera tat
sein übriges dazu und peppte die Berichte aus der Neuen Welt in seinen
höchstpopulären Werken auf. Obwohl nie in Amerika gewesen, wertete er die Berichte
Reisender aus und fügte den auf Hören-Sagen fußenden „Beweisen“ für
Kannibalismus sensationslüstern schaurige Details hinzu: So halten sich
karibische Stämme Kriegsgefangene in Käfigen, kastrieren und mästen sie (analog
zur europäischen Viehwirtschaft), um sie dann zu schlachten und bei orgiastisch
und sexuell ausschweifenden Festen zu verspeisen.
Im
folgenden entwickelt sich ein regelrechtes Genre der Reiseberichte aus der
Neuen Welt, auch von Europäern, die dann behaupten unter Kannibalen gelebt zu
haben und kannibalische Riten tatsächlich beobachtet zu haben. Problematisch an
diesen Berichten ist zum einen, daß sie oft aufeinander rekurrieren. So ist
vieles bis ins Detail identisch, zum Teil sogar Wort für Wort von den
(erfundenen) Schilderungen des Petrus Martyr von Aghiera oder von anderen
abgeschrieben – auch so erklärt sich, daß sich die Reiseberichte scheinbar
bestätigen. Zum anderen werden Kulturen unterschiedlichster Regionen wie z. B.
der Karibik oder Brasiliens als einheitlicher Kulturtyp beschrieben. Die
stereotypen Topoi des edlen, unschuldigen Wilden und des barbarischen,
grausamen Wilden werden weiterhin kolportiert, beginnen aber ineinander zu
verschmelzen – immer jedoch sind die Wilden nackt und schön. Mit demselben
Authentizitätsanspruch („Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“), mit dem von
den Kannibalen berichtet wird, erfahren die Leser auch vom Volke der Amazonen,
von Jungbrunnen und von Monstern. Dies schränkt gewissermaßen die
Glaubwürdigkeit der Reiseberichte insgesamt ein.
Warum
aber findet sich die Behauptung von beobachtetem Kannibalismus in Amerika so
zahlreich in Berichten aus der Neuen Welt? Ganz klar spielten die oben
erwähnten Erwartungen eine große Rolle – wer nach Amerika reiste,
rechnete damit, auf Kannibalen zu treffen. Dies führte auch dazu, daß einiges
mißinterpretiert wurde. So ist schon von Kolumbus beschrieben worden, daß in
einem von Ureinwohnern wohl aus Angst vor den fremden Neuankömmlingen hastig
verlassenen Dorf Menschenschädel gefunden worden waren. Interpretiert Kolumbus
diese zunächst selbst als Bestandteile eines Ahnenkultes, stellen sie für ihn
später „Beweise“ für kannibalische Riten dar.
Wenn Europäer tatsächlich in Gefangenschaft der Ureinwohner gerieten, wurden sie oft gut behandelt, bekamen reichlich zu essen und in manchen Fällen gar Frauen an ihre Seite. Anstatt dies jedoch als zivilisierte Art, mit Gefangenen umzugehen, zu interpretieren, schlossen die Reisenden daraus, daß sie für ein kannibalisches Fest gemästet würden und die Frauen nur „gestellt“ bekamen, um mit ihnen Nachwuchs zu zeugen, der dann wieder in den Kochtöpfen landen sollte! Zu diesen kannibalischen Festen kam es natürlich nie. Ebenso konnten sich die Europäer die weitestgehend fleischlose Ernährung der Azteken nicht erklären. Da man keine Viehherden oder dergleichen fand, schloß man daraus, daß die Azteken dann wohl Menschenfleisch verspeisen müßten. Auch wurde die in manchen Gegenden der Karibik damals übliche – und in der Tat leicht mißverständliche – Form der Totenbestattung, nämlich die Mumifizierung über Feuer, als Rösten interpretiert.
Wenn Europäer tatsächlich in Gefangenschaft der Ureinwohner gerieten, wurden sie oft gut behandelt, bekamen reichlich zu essen und in manchen Fällen gar Frauen an ihre Seite. Anstatt dies jedoch als zivilisierte Art, mit Gefangenen umzugehen, zu interpretieren, schlossen die Reisenden daraus, daß sie für ein kannibalisches Fest gemästet würden und die Frauen nur „gestellt“ bekamen, um mit ihnen Nachwuchs zu zeugen, der dann wieder in den Kochtöpfen landen sollte! Zu diesen kannibalischen Festen kam es natürlich nie. Ebenso konnten sich die Europäer die weitestgehend fleischlose Ernährung der Azteken nicht erklären. Da man keine Viehherden oder dergleichen fand, schloß man daraus, daß die Azteken dann wohl Menschenfleisch verspeisen müßten. Auch wurde die in manchen Gegenden der Karibik damals übliche – und in der Tat leicht mißverständliche – Form der Totenbestattung, nämlich die Mumifizierung über Feuer, als Rösten interpretiert.
Dann
darf man noch annehmen, daß die Reisenden schlicht damit überfordert waren, die
indigenen Kuluren zu begreifen. Dies ist wohl ein weiterer Grund, warum sie auf
etablierte Erklärungsmuster à la Martyr von Aghiera zurückgreifen mußten.
Weiter ist natürlich das Fehlen einer gemeinsamen Sprache eine stete Gefahr für
Mißverständnisse. Die Sprachlosigkeit bietet auch großen Raum, dem Ureinwohner
bestimmte Dinge in den Mund zu legen oder – um es klar zu sagen – Dialoge
einfach zu erfinden. So berichtet etwa der deutsche Landsknecht in
portugiesischen Diensten Hans Staden in seiner Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft
der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America
gelegen (1557) von den (in der Folge als das Menschenfresservolk
schlechthin bekannten) Tupinambá in Brasilien. Diese hielten ihn in
monatelanger Gefangenschaft. Staden unterrichtet seine Leser nun also von einem
Dialog zwischen zwei Ureinwohnern untereinander (sic!), in dem diese sich en
détail und freimütig darüber austauschen, wie sie ihr Menschenfresserfest
abzuhalten gedenken. Obwohl Staden
selbst in seinem Bericht nicht müde wird zu betonen, daß die Kommunikation mit
den Ureinwohnern so unendlich mühevoll gewesen sei, versichert er uns
gleichzeitig Dialoge der Ureinwohner wortgetreu wiedergeben zu können.
Daß
man diese Beschreibungen nun als pure Erfindungen, Ausschmückungen oder
bestenfalls Mißverständnisse ansehen kann, scheint klar. Cui bono? Was könnten
die Motive hierfür gewesen sein?
Für
die Berichte von Privatleuten wie Hans Staden kommen natürlich
Publikations-strategien in Frage. Erstens findet die Aufzeichnung seiner
Erinnerungen Jahre nach den Ereignissen statt und zweitens benötigt er für
deren Verschriftlichung und literarische Komposition einen Ghostwriter. Dies
war in der frühen Neuzeit usus und findet seinen Grund auch darin, daß der
gemeine Europäer (also z. B. ein Landsknecht) im Lesen und Schreiben gewöhnlich
nicht zu Hause waren. Dazu kommt noch, daß sich Berichte mit grausigen und
scheußlichen Details aus dem Leben der Wilden Amerikas natürlich gut verkaufen.
Darum finden wir neben der Anthropophagie noch andere Sensationen, die dazu
geeignet waren, die Hirne der europäischen Leser anzuregen: Promiskuität,
sexuelle Ausschweifung, Inzest, Magie, Fabelwesen usw. (Überhaupt paart sich
der Kannibalismus bemerkenswert oft mit anderen Ungeheuerlichkeiten aus
europäisch-christlicher Sicht. Nach dem Motto: „Wer schon Menschen frißt, dem
ist alles zuzutrauen!“) Dazu muß noch die Lesererwartung bedacht werden. Wer sich einen Bericht aus dem
Kannibalenland Amerika zulegt, möchte auch gerne von derlei Sensationen lesen –
dadurch wurdendie Berichte ja auch erst stimmig. Kannibalismus als Kauf-
und Verkaufsargument also.
Es
gibt aber noch ökonomische Interessen anderer Art: So gibt der spanische König
bereits 1502 einen Erlaß heraus, der besagt, daß das christlich begründete
Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels außer Kraft gesetzt sei, wenn es
sich bei den Versklavten um Kannibalen handle. Prompt beeilen sich sämtliche
Sklavenhändler und solche, die es werden wollen, zu versichern, jeder einzelne
aus ihrem „Warenangebots“ stamme aus einem kannibalischen Stamm, die natürlich
in der Folge wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein ähnliches Argument findet sich auch außerhalb Europas. So rechtfertigten
auch arabische Sklavenhändler ihre Beutezüge in Ostafrika damit, daß es sich
dabei ja nur um Kannibalen handle. Als dann die europäischen Sklavenhändler den
ostafrikanischen „Markt“ für sich entdeckten, bemühten sich die Araber, – man
bemerke die Ironie – den Ostafrikanern zu versichern, die Europäer seien
Menschenfresser. Damit wollten sie erreichen, daß jene den Europäern soweit es
irgend ging aus dem Wege gehen, um nur ja nicht von ihnen gefangen zu werden.
Man wollte sich ja von den Europäern nicht das Geschäft kaputt machen lassen.
Die
Diffamierung der indigenen Völker hatte auf offizieller Seite noch weitere Gründe.
Sie diente zur Legitimation der imperialen und missionarischen Absichten. Ob
nun aufrichtig empfunden oder nur zynisch vorgeschoben: Die „Bürde des weißen
Mannes“, die Zivilisation in der Welt zu verbreiten, wurde bis ins 20.
Jahrhundert hinein immer wieder als Begründung und Rechtfertigung zur Bildung
kolonialer Reiche beschworen. Der christliche Missionar konnte bei seinem Werk
auf zusätzliche finanzielle und andere Unterstützung hoffen, wenn er
berichtete, bei seinen Missionsobjekten handle es sich um Kannibalen – und
damit gleichzeitig seinen Wagemut und sein unerschütterliches Gottvertrauen
unter Beweis stellen. Das brutale Vorgehen der europäischen Expeditionstrupps,
Entdecker, Abenteurer, Hasardeure und Glücksritter gegen die indigene
Bevölkerung stieß in der Heimat oft auf Kritik. Diese Kritik konnte etwas
abgemildert werden, wenn man im Nachhinein zu seiner Verteidigung
behauptete, bei den Opfern habe es sich um Menschenfresser gehandelt (wie dies
z. B. für die Azteken geschah). Es hat doch bloß menschenfressende Barbaren
getroffen.
Die
Gewohnheit, indigene Völker als kulturlose Barbaren und Menschenfresser
darzustellen, ist also eine Strategie (ob böswillig oder nicht), die Errichtung
von Kolonialreichen zu legitimieren.
Was
hier für die Vorstellung, Amerika sei ein Kontinent voller Kannibalen,
ausgeführt wurde, trifft auf ähnliche bis gleiche Weise auch auf Afrika und
Ozeanien zu. Arens und Frank zeigen auf, daß dies sogar für die Ethnologie
bis ins 20. Jahrhundert gilt. Augenzeugen für Kannibalismus gibt es nicht.
Berichte über Kannibalismus stützen sich nur auf Hören-Sagen, auf die
Behauptungen anderer (!), dem betreffenden Volk z. T. feindlich gesinnter
Stämme und Gruppen oder lediglich auf Interpretationen von Funden und
Beobachtungen, die sich auch ohne den Kannibalismus plausibel erklären ließen.
Scheinbar
ist der Kannibalismus gegenüber der Zivilisation wenig resistent. So erklärten
sich Ethnologen die mehr als dürftige Beweislage für die Menschenfresserei damit,
daß diese ja auch nie von westlichen Ethnologen beobachtet werden könne,
da der Kannibalismus ja sofort mit Kontakt zur Zivilisation verschwunden sei
oder weil z. B. die Urwaldbewohner Neuguineas dem Verbot des Kannibalismus
durch die englische und niederländische Kolonialregierung (sic!) Folge
leisteten. Damit stünde allerdings der Kannibalismus, der ja als so
essentielles Element primitiver Kulturen daherkommt, im krassen Gegensatz zu
anderen kulturellen Eigenheiten wie Kopfjagd, Magie und Polygamie etc., die
sich zum steten Verdruß weißer Siedler, Kolonialbeamter und christlicher
Missionare auch trotz Verbote und Zivilisationskontakt hartnäckig hielten und
z. T. halten. Trotzdem wurde Kannibalismus von modernen Ethnologen als Fakt betrachtet: „Wenn
er jetzt nicht mehr beobachtet werden kann, dann hat es ihn aber trotzdem früher
gegeben.“ In dieser Logik fungiert also der Mangel an Beweisen als Beweis.
In
den 1960er und 70er Jahren erforschte Daniel Gajdusek die tödlich verlaufende
Krankheit Kuru, die den Stamm der Fore in Neuguinea heimsuchte. Er
vermutete, daß Kuru durch den Verzehr des infektiösen Gehirns im Rahmen
endokannibalischer Praktiken übertragen wird. Arens konnte sogar an dieser 1976
mit dem Medizinnobelpreis gewürdigten Forschungsarbeit akribisch zeigen, daß
auch Gajduseks Kannibalismusannahme auf Hören-Sagen, Fremdzuschreibung und
unsicherer Interpretation beruht. Auch Gajdusek hat nie ein
kannibalisches Ritual mit eigenen Augen gesehen! Die Übertragung der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die so verblüffende Ähnlichkeiten
mit Kuru aufweist, ist immer noch nicht restlos erforscht. Interessant: Sie
wurde jedoch noch nie mit kannibalischen Ritualen zu erklären versucht.
Der von mir vermutete Grund hierfür ist: Creutzfeldt-Jakob tritt in Europa
auf.
Analog
hierzu muß noch erwähnt werden, daß es zahlreiche Dokumente mit
Unterstellungen, Zeugenaussagen und unter Folter abgepreßten Geständnissen gibt,
die zeigen sollen, daß im europäischen Mittelalter und in der frühen Neuzeit
jüdische Gemeinden, Hexen und Ketzergruppen Kannibalismus und Ritualmorde
praktiziert hätten. In der heutigen Wissenschaft dienen diese Zeugnisse nur
noch dazu, die Vorstellungen zu erforschen, die es über diese sozialen
Außenseiter gab. Es wird keinesfalls ernsthaft angenommen, daß dadurch die reale
Existenz kannibalischer Sitten unter Juden und Häretikern bewiesen werde.
Die Dokumentation von Kannibalismus in Amerika, Afrika und Ozeanien ist jedoch
nicht besser.
Ein
letztes Wort noch über die prähistorische Anthropophagie: Archäologen und
Prähistoriker nehmen an, daß die Kulturen heutiger und in den letzten
Jahrhunderten „entdeckter“ primitiver Völker Rückschlüsse auf das Leben des
frühen Menschen zulassen. Diese primitiven Völker seien also auf einem alten
Entwicklungsstadium gleichsam „hängengeblieben“. Unabhängig davon, für wie
schlüssig und zuverlässig wir diese Theorie nun halten – für unser Thema gilt:
Da die Ethnologie bis ins späte 20. Jahrhundert kulturellen Kannibalismus als Fakt
präsentierte, ließ dies die Interpretation archäologischer Funde natürlich
nicht unbeeinflußt. Auch hier zeigt sich, daß z. B. abgenagte Menschenknochen
als Hinweis auf Kannibalismus interpretiert wurden, obwohl es zumindest genauso
plausibel erscheint, daß es Tiere waren, die an den Knochen genagt hatten.
Dieses
Kapitel zusammenfassend möchte ich konstatieren, daß unsere Hinweise auf
rituellen Kannibalismus auf
- Hören-Sagen
- Fremdzuschreibungen
- aus Folter
hervorgegangenen Geständnissen
- gewagten bis
unplausiblen Interpretationen
bauen.
Die Vorwürfe des Kannibalismus an verschiedene
Gruppen beruhen auf
- sich
selbstbestätigenden Erwartungen
- Mißverständnissen
- Diffamierung
- verkaufsfördernden
Publikationsstrategien
- Rechtfertigung des
Sklavenhandels und des brutalen Vorgehens gegen indigene Völker
- Legitimierung kolonialer
und imperalistischer Absichten
Damit ist nicht bewiesen, daß es kuturell
bedingten Kannibalismus nicht gab. Es wird lediglich gezeigt, daß dessen
Existenz eben nicht bewiesen ist. Und die Beweislast liegt auf Seiten
derer, die die Existenz des Kannibalismus behaupten. Stand der Forschung heute
ist jedenfalls, daß es rituelle Anthropohagie wohl nie gab.
Anthropophagie
und Literatur
Den Topos der Anthropophagie finden wir nicht nur
in Reiseberichten und ethnographischer Forschung, sondern in zahlreichen Formen
auch in der Literatur und der Mythologie. Bereits die weltweiten Mythen von der
Schöpfung der Welt kommen nicht ohne kannibalischen Akt aus. So war die Sonne
im Mythos der südamerikanischen Chipaya ein dunkelhäutiger mit einer Federkrone
geschmückter Mann, der andere Menschen verspeiste bis er an einen Mann gerät,
der es schafft den Sonnen-Menschen zu töten. Es wird Nacht und am nächsten Tage
übernimmt der älteste Sohn des Sonnen-Menschen dessen Position und das Spiel
und der Kampf beginnt von neuem.
Auch
in griechischen Mythen stoßen wir immer wieder auf Menschen- bzw.
Götterfresser. Zeus' Sohn Dionysos wird frischgeboren von den Titanen
verschleppt. Um seine Entführer zu verwirren, verwandelt sich Dionysos
abwechselnd in eine Ziege, eine Schlange, einen Löwen, einen Tiger und
schließlich in einen Stier. Dann wird es den Titanen zu bunt und sie reißen den
stiergestaltigen Dyonisos in Stücke und fressen sein rohes Fleisch bis auf den
Kopf. Zeus nun, verständlicherweise verärgert, rächt sich an den Titanen und
tötet sie mit seinen Blitzen. Aus der Titanenasche entstehen die Menschen.
(Dyonisos konnte von Athene anhand seines übrig gelassenen Kopfes
glücklicherweise wiederhergestellt werden.) Im zyklischen Weltbild der Mythen
braucht es also immer etwas, das vergeht, um den Menschen oder etwa die
ruhespendende Nacht zu erschaffen. Damit einher geht oft ein brutales
Sich-Einverleiben.
Auch
in der Odyssee wird von Menschenfressern berichtet. Nach der Idylle auf der
Insel der Lotophagen folgt für Odysseus und seine Gefährten in harschem
Kontrast die Bedrohung durch den menschenverspeisenden Kyklopen Polyphem, der
in der Folge in der antiken und mittelalterlichen Literatur zum Ahnvater der
wilden, zivilisationslos in der Natur hausender Männer wird. In der Odyssee
wird der Kyklop jedoch – und das wird später wichtig – auch als Hirte
präsentiert, der sich auf sein Käsereihandwerk versteht. Aber der Barbar bricht
in ihm durch:
Also sprach ich [Odysseus], und
nichts versetzte der grausame Wüterich [Polyphem],
Sondern
fuhr auf und streckte nach meinen Gefährten die Hand aus,
Deren
zween anpackt' und wie junge Hund' auf den Boden
Schmetterte:
blutig entspritzt' ihr Gehirn, und netzte den Boden.
Dann
zerstückt' er sie Glied vor Glied und tischte den Schmaus auf,
Schluckte
darein, wie ein Leu des Felsengebirgs, und verschmähte
Weder
Eingeweide, noch Fleisch, noch die markichten Knochen.
Weinend
erhuben wir die Hände zum Vater Kronion,
Als
wir den Jammer sahn, und starres Entsetzen ergriff uns.
Doch
kaum hatte der Riese den großen Wanst sich gestopfet
Mit
dem Frasse von Menschenfleisch und dem lauteren Milchtrunk,
Siehe,
da lag er im Fels weithingestreckt bei dem Viehe.
Hier wird der Menschenfresser in seiner Roheit
präsentiert.
Auch
in den Märchen finden wir dies: So ist die Hexe in Hänsel und Gretel ein
Sinnbild für das Außenseitertum. Fernab der Siedlungen wohnt die alte Frau im
Wald und lockt ihre Opfer mit dem Lebkuchenhaus in die Falle. Auch Hänsel wird
in einen Käfig gesteckt, um gemästet zu werden. Vor der Schlachtung jedoch
gelingt es den Geschwistern, die bedrohliche Alte in ihren eigenen Ofen zu
stoßen. Damit besiegen sie nicht nur die dunkle Bedrohung im finsteren Walde
sondern auch die im eignen Heim: Als sie zum Vaterhaus zurückkehren, ist die
böse Stiefmutter, die ihre Aussetzung ja veranlaßt hat, gestorben und die
Familie lebt von nun an glücklich wiedervereint harmonisch beisammen.
Einen
anderen Weg wählt Michel de Montaigne (1533-1592) in seinem Essay Des
Cannibals. Hier wird der Kannibalismus als Teil einer
paradiesisch-ursprünglichen Kultur (der edlen Wilden) der Tupinambá in
Brasilien präsentiert. Er spricht hierin den Europäern das Recht ab, über die
Tupinambá aus übergeordneter Perspektive zu urteilen. Gewiß: Die Tupinambá
seien vor der Vernunft Barbaren und ihr Kannibalismus ein Ausdruck davon, doch
foltern die Europäer die Häretiker und verfolgen sie mit Feuer. Also seien auch
die Europäer vor der Vernunft Barbaren. Gleichfalls seien die Europäer gar die
roheren Gesellen, denn es sei besser, tot verspeist als lebendig verbrannt zu
werden.
Auch
in der modernen Literatur findet man das Thema des Menschenfressers. In Bret
Easton Ellis' Roman American Psycho haben wir es mit dem New Yorker
Yuppie Patrick Bateman zu tun, der auf grausame Art Menschen tötet.
Gleichzeitig dienen ihm Marken als Fetisch und er verachtet andere Mitbürger,
die seinen auf Konsum fixierten Lebensstil nicht teilen wollen oder können. Er
kennt, wie scheinbar auch seine Yuppie-Umwelt, keine zwischenmenschliche Nähe,
keine Freundschaften oder Loyalitäten. Er konsumiert mit kalter
Gleichgültigkeit sowohl Waren als auch Menschen, um seine innere Leere zu
füllen. Nicht nur, daß er seine Opfer auf jede denkbare Art scheußlich zu Tode
foltert, er berauscht sich auch am Geschmack ihres Blutes und Fleisches,
bewahrt sogar Leichenteile in seinem Kühlschrank auf. Hier wird der
Kannibalismus auch ins ökonomische gewendet: Der Yuppie als Stellvertreter
eines radikalen Kapitalismus' und des deindividualisierenden Konsumterrors, als
perfektionierter entmenschlichter Mensch verschlingt er die anderen Mitglieder
der Gesellschaft – in American Psycho nicht nur allegorisch, sondern
tatsächlich.
Die
Beispiele für Darstellungen von Menschenfresserei in Literatur (und auch in
bildender Kunst und Film) könnten hier fast beliebig erweitert werden – sie
sind Legion.
Die Faszination
Warum also scheint der Kannibalismus ein so
essentieller Part der menschlichen Imagination zu sein?
Psychoanalytisch
ist der Vorgang des Essens stets mit der Paradoxie von nährend – zerstörend,
von Wohlbehagen – Schuld verbunden. Besonders das Essen von Fleisch ist
schuldbeladen, muß doch der Nahrungslieferant zuvor streben, ja oftmals gar
getötet werden. Die so entstandene Schuld kann nun leicht auf andere übertragen
und abgewälzt werden, die noch viel Ungeheuerlicheres tun: nämlich Menschen
essen. Auch erinnert Tierfleisch selbstverständlich an Menschenfleisch. Hinzu
kommt noch die in alter Zeit durchaus berechtigte Angst gefressen zu werden,
nämlich von wilden Tieren. Auch diese Angst vor dem Tier im feindlichen Wald
kann schnell auf den unheimlichen Fremden übertragen werden.
Das Essen ist ein
gemeinschaftsstiftender Akt. Der Mensch ißt nicht gern allein und auch für
unsere heutige Kultur stimmt ja noch: Man kocht und ißt gemeinsam mit seiner
Familie oder seinen Freunden. Wer mit mir ißt, ist mir nicht fremd, der gehört
zu mir. Wenn soziale Gemeinschaften gebildet werden, schließt dies gleichzeitig
andere aus diesen Gemeinschaften aus. Sie werden zu anderen. Du bist
anders, weil du nicht mit uns ißt – du ißt nicht mit uns, weil du anders bist,
weil du anders ißt. Auch diese anthropologische Konstante erzeugt
Vorstellungen, die den anderen durch seine Eßgewohnheiten definieren. Da
ist es nur ein kleiner Schritt, dem Fremden widernatürliches, ekelhaftes und
tabuisiertes Essen und schließlich Kannibalismus zu unterstellen.
(Daß Fremde oft über ihre anderen Eßgewohnheiten definiert und diffamiert werden, ist offensichtlich: "Spaghettifresser" für die italienischen Gastarbeiter in den 60ern, Engländer nennen Franzosen abschätzig "frogs", weil in Frankreich Froschschenkel als Delikatesse gelten, Muslime grenzen sich vom Westen, von den "Schweinefleischfressern" oder "Kartoffeln" ab, amerikanische Soldaten sprachen im Vietnamkrieg verächtlich von den "rice eaters" und Mitteleuropa blickt herablassend auf die "Knoblauchfresser" vom Balkan und so weiter.)
(Daß Fremde oft über ihre anderen Eßgewohnheiten definiert und diffamiert werden, ist offensichtlich: "Spaghettifresser" für die italienischen Gastarbeiter in den 60ern, Engländer nennen Franzosen abschätzig "frogs", weil in Frankreich Froschschenkel als Delikatesse gelten, Muslime grenzen sich vom Westen, von den "Schweinefleischfressern" oder "Kartoffeln" ab, amerikanische Soldaten sprachen im Vietnamkrieg verächtlich von den "rice eaters" und Mitteleuropa blickt herablassend auf die "Knoblauchfresser" vom Balkan und so weiter.)
Der
Vorstellung von Kannibalismus wohnt auch die Faszination der Metamorphose inne:
Das Menschenfleisch nährt den Menschen, aus Gestorbenem und Totem wird Leben.
Auch stellt die antropophage Idee die bange Frage nach der Stellung des
Menschen in der Schöpfung, in der Welt: Was unterscheidet den Menschen vom
Tier? Worin liegt die Sonderstellung des Menschen begründet? Beim Kannibalismus
wird die dünne Grenze vom zivilisierten Menschen zum Barbaren, vom Menschen zum
Tier durchbrochen. Auch hier findet eine faszinierende Metamorphose statt:
Durch den Akt des Kannibalismus verwandelt sich der Mensch zum Tier und zwar
sowohl das Subjekt als auch das Objekt. Der Menschenfresser durchbricht mit
seiner ungezähmten Wildheit die Schranke zum Tier und das Fleisch des Opfers
dient wie das Fleisch des Tieres als Nahrung.
Als
wertvoll, die Idee vom Kannibalismus zu verstehen, erweist sich auch die
Ritualforschung. Sie stellt fest, daß es das kannibalische Mahl tatsächlich gab
und gibt, jedoch nicht als kultische Realität, sondern als ritualbegleitende
Fiktion: Tieropfer werden imaginativ zu Menschenopfern, verspeistes Tierfleisch
zu Menschenfleisch aufgewertet. Dies entspricht der psychoanalytischen
Kategorie der Sublimierung. Bei der Sublimierung werden unbewußte Triebe
stellvertretend befriedigt (im Gegensatz zur Verdrängung, bei der sie
unbefriedigt zurückbleiben und zu Zwangserkrankungen und anderen Leiden führen
können). Beispielsweise ruft die Eucharistie die Fiktion Jesu Leib und Blut zu
inkorporieren hervor. In der katholischen Transsubstantiationslehre wird ja gar
bis heute behauptet, mit Hostie und Wein verschlinge der Gläubige nicht das Symbol
des Leibes Christi sondern den Leib selbst.
Für
die griechische Archaik ist die Sitte feststellbar, männliche Jünglinge
vorübergehend aus der dörflichen Gemeinschaft zu verbannen und ihnen die Hege
der Schaf- und Ziegenherden aufzuerlegen, während die Gemeinschaft weiterhin
Landwirtschaft betreibt. Mit der Sorge um das Vieh, fallen die Jünglinge selbst
in einen Status zwischen Vieh und Mensch zurück und gleichsam eine Sprosse in
der menschlichen Zivilisationgeschichte tiefer – vom Seßhaften zum Nomaden. Sie
legen also nicht nur eine räumliche Reise auf die abgelegenen Weiden zurück,
sondern quasi auch eine zeitliche in die Vergangenheit. Nicht umsonst galten
die Hirten im archaischen und antiken Griechenland als besonders wild und
ungestüm (vgl. etwa den Hirten Polyphem), was bei pubertierenden jungen Männern
unter sich wohl nicht verwundern kann. Nach dieser begrenzten Zeit jedoch
werden sie von den Nachwachsenden abgelöst und kehren nun – gestählt durch die
harten Jahre auf den Weiden – als heiratsfähige Männer in das Dorf zurück –
eine Initiation also. Die Jugend (wohl im Unterschied zu heute) galt unter den
Männern des alten Griechenland als eine entbehrungs-reiche (man darf aber
annehmen: wohl auch als wild-romantische) Zeit – die finsteren Lehrjahre.
Interessanterweise beobachten wir hier auch ein biomorphes Konzept, das die
Menschheitsgeschichte mit der Geschichte des Individuums in Gleichklang setzt.
Für die Menschheitsgeschichte gelten die drei Stadien:
- das mythische, paradiesische
Goldene Zeitalter, in dem die Natur den Menschen selbst versorgt, er sich
nicht um seine Nahrung bekümmern muß
- das Zeitalter der
Nomaden, die rau und wild mit ihren Tieren lebten
- das (jetzige)
Zeitalter der Seßhaftigkeit, mit der die Zivilisation beginnt
Hiermit korrespondieren die drei Lebensalter des
Mannes:
- das kindliche
Lebensalter, in dem man sich nicht um seine Nahrung bekümmern muß – die
Mutter sorgt für einen
- die Adoleszenz,
während der man ein raues, wildes und entbehrungsreiches Leben auf den
Weiden führen muß
- das Mannesalter, in
dem man heiratsfähig und seßhaft geworden mit der eigenen Familie auf dem
eigenen Hof arbeitet
Wie wird nun diese Initiation rituell begangen?
Für das Übergangsfest werden Schafe und Ziegen geschlachtet. Die neuen,
angehenden Hirten verspeisen deren Fleisch, das symbolisch für die bewährten
Hirten steht, die nun als Bauern und vollwertige Männer in die Dorfgemeinschaft
wiederaufgenommen werden. Das Fleisch der Tiere wird also symbolisch zum
Fleisch der Männer. Wichtig hierbei ist, daß die neuen Hirten bei diesem Fest
ja aus eben dieser Gemeinschaft verstoßen werden – sie werden zu anderen,
indem symbolisch eine zivilisationsgeschichtliche Regression stattfindet
gepaart mit symbolischem Kannibalismus! Gleichzeitig „beenden“ die altgedienten
Hirten ihren Kannibalismus und gehen zur Landwirtschaft über. In den Nachwirkungen dieses Initiationsritus' mag auch ein Hinweis darauf
liegen, warum besonders oft nomadisch lebende Völker als Kannibalen verschrien
waren (z. B. die Skythe bei Herodot, s. o.). Ihr Nomadentum galt nämlich als
rückständig und barbarisch – und eben auch kannibalisch.
Fazit
Wir haben gesehen, daß die Anthropophagie auf den
Menschen eine Faszination ausübt, die sich zahlreich in Mythen, Märchen und
Literatur niederschlägt. Sie beeinflußte und beeinflußt auch unsere
Weltanschauung, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie bereit sogar Ethnologen
waren, die sich der wissenschaftlichen Erforschung menschlicher Kultur(en)
verpflichtet haben, den Kannibalismus als Faktum zu akzeptieren und als solches
weiter zu kommunizieren.
Der
Idee vom Kannibalismus wurzelt sowohl in Sublimations- und
Substitutionsstrategien als auch in Urängsten und Urerfahrungen des Menschen,
die dieser in die Realität projiziert und auf den anderen überträgt.
Ich
bin mir nicht sicher, was überwiegt: Die Beruhigung darüber, daß es den
kulturellen Kannibalismus wohl nie gegeben hat, oder die Beunruhigung über die
Bereitwilligkeit, ihn den Außenseitern und „Randvölkern“ diffamierend zu
unterstellen.